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Ingrid würde ihre Mutter gerne darauf ansprechen, was sie für ihren Mann empfindet. Aber so naheliegend die Frage ist, so abwegig ist sie auch, weil Ingrid diese Frage als jemand stellen müßte, der außerhalb steht. Doch als Kind (und diese Vertracktheit erfaßt Ingrid intuitiv) ist sie die greifbare Folge der Liebe ihrer Eltern, selbst wenn diese de facto keinen Bestand mehr hat. Ingrid verkörpert — so oder so — die Zukunft dessen, was sich ihre Eltern einmal bedeutet haben. In diesem Punkt ist sie sogar bereit, das Erbe anzutreten. Aber ihre Eltern hätten auch Otto durch den Krieg bringen sollen, findet sie. Es wird ihr langsam zuviel, alle Erwartungen von Jugend und Aufschwung und besseren Zeiten in ihrer Person konzentriert zu sehen. Sie ist nicht die Zukunft ihrer Eltern. Sie ist ihre eigene Zukunft. Am liebsten würde sie sagen: Papa, gib die Hoffnung auf, daß sich die Ordnung deiner Eltern nochmals wiederholt. Die Welt verändert sich, sie verändert sich an Stellen, von denen man es nicht erwartet: In der Gestalt von Töchtern zum Beispiel.

Richard läßt sich gerade über die Ungeklärtheit von Peters wirtschaftlichen Verhältnissen aus, und daß es viele junge Männer gebe, die durch die Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse in ihrer Berufsentwicklung zurückgeworfen wurden. Für um so unverantwortlicher halte er es, einem Mädchen, das sechs Jahre jünger ist, mit Heiratsgedanken das Herz schwer zu machen, wenn man sein Studium seit Jahren nicht weiterbringe und auch sonst nichts vorzuweisen habe außer Schulden.

Ingrid würde gerne dahinterkommen, woher ihrem Vater diese Informationen zufliegen, und weil ihr Vater nicht aufhört, auf Peters geschäftlicher Malaise herumzuhacken, stellt sie sich schützend vor ihren Liebsten (der und kein anderer, sie wird ihn immer):

— Papa, ich weiß wie niemand, daß Peter rackert und sich plagt, um vorwärtszukommen. Es ist ehrliche Arbeit.

— Aber daß ehrliche Arbeit erst dort anfängt, wo sie auch etwas einbringt und nicht nur das Geld anderer kostet, hat sich nicht bis zu euch durchgesprochen, was? Da geht auch dir deine rasche Auffassungsgabe plötzlich ab. Solange diese Spiele nichts einbringen, sind sie windige Unternehmungen, nichts weiter.

— Ja, weil für dich einer geerbt haben muß, damit er etwas anfangen darf. Alle anderen sind Gauner und Nullen.

Alma sagt erinnernd:

— Ingrid —.

— Mama, es ist so ungerecht, daß er sich zwischen zwei Menschen stellt, die sich lieben. Es ist ja nicht Peters Schuld, daß sein Vater mit Berufsverbot belegt war und ihn auch jetzt bei seinem Studium nicht unterstützen kann. In Papas Augen soll Peter die Sünden seines Vaters abbüßen. Das ist ungerecht. Papas Abneigung ist total mutwillig. Und dann erwartet er auch noch meinen Beifall.

— Ich bin mit Sicherheit nicht mutwilliger als du, nur daß bei dir hinzukommt, daß du in keiner Sekunde dein Gehirn einschaltest.

Man hört von draußen den Dienstwagen ihres Vaters in die Einfahrt biegen, und weil Ingrid jetzt sicher ist, daß das Gespräch nicht mehr lange dauern kann, sagt sie, was ihr als erstes in den Sinn kommt:

— So kannst du Mama in die Tasche stecken. Bei mir funktioniert der Trick nicht.

Richards Hals hinauf schwillt eine Ader und pumpt Blut in seinen schmerzenden Zahn. Er blickt vom Tisch auf, während Ingrids Augen den umgekehrten Weg nehmen, hinunter zu der bestrichenen Honigsemmel; als würde sie sich unter den donnernden Worten ihres Vaters ducken.

— Das ist der Gipfel! So lasse ich nicht mit mir reden! Ich erwarte von dir, daß du dich ins familiäre Regelwerk einfügst, sonst setzt es Konsequenzen! Ist das klar?

Dann erst einmal Schweigen. Es sieht so aus, als legten sich alle ihre Meinung zurecht. Auch Alma sucht nun sichtlich nach etwas, was sie sagen könnte. Offenbar ohne Erfolg. Nach einigen Sekunden, als habe er das Ausmaß der Unverschämtheit von Ingrids letzter Bemerkung erst mit Verzögerung begriffen, als seien ihre Worte mit einem besonders trägen Gewicht in seinen Verstand hineingefallen, haut Richard mit der Hand auf den Tisch, daß die Tassen springen.

— Und jetzt ist Schluß! Ich stelle mich nicht länger zur Verfügung, damit du deine Launen befriedigen kannst. Solange du die Beine unter meinem Tisch hast, tust du gefälligst, was ich sage. Haben wir uns verstanden?

Ingrid starrt ihn an, die Zähne fest aufeinandergebissen. Viel fehlt nicht, und sie würde die Blumenvase an die Wand werfen oder vom Tisch aufstehen und einfach weggehen. Fliehkräfte, vergleichbar mit denen am Kettenkarussell im Prater, wirken auf sie ein. Aber noch für mindestens zwei Jahre wird Ingrid von ihrem Vater abhängig sein, den Trumpf kann ihm keiner nehmen, sie weiß, sie sollte es nicht auf die Spitze treiben.

Doch ob ihr Vater besser dran ist als sie? Ob er jemals so geliebt hat wie sie? Sie kann es sich nicht vorstellen, obwohl ihr das leid tut für ihre Mutter.

— Ob wir uns verstanden haben?

— Ja, sagt sie kleinlaut, nicht, weil sie eingeschüchtert ist, sondern in der Erkenntnis, daß ihr Vater alles andere nicht hören würde und daß sie es erst recht nicht zuwege bringt, ihn zu einer anderen Meinung zu bekehren. Somit sieht sie auch keine Möglichkeit, ehrlich und glücklich zugleich zu sein.

— Dann kann ich mich darauf verlassen, daß du mir keine weiteren Dummheiten machst?

Sie findet, daß es Ansichtssache ist, was man unter Dummheiten versteht, und so nickt sie, betrachtet dabei das Fensterglas und die dahinter aufragenden Obstbäume, in denen sie in ihrer Kindheit geklettert ist. Auch Otto ist dort geklettert. Sie möchte wissen, was für Erinnerungen in ihren Eltern herumgeistern, wenn sie aus dem Fenster sehen.

Dummheiten, Dummheiten.

— Nun, das ist ja beruhigend.

Richard, gedunsen, rot (seine Backe ist seit gestern noch dicker geworden), zugleich auch erleichtert, daß Ingrid schweigend aus dem Fenster sieht, als wäre da draußen etwas, von dem sie sich ablenken läßt.

— Es ist nur zu deinem Besten.

Versöhnlich, vielleicht in der Hoffnung, er könnte verstanden werden.

— Ich halte es genauso.

Und obwohl sich nicht mit Bestimmtheit sagen läßt, was Ingrid damit meint, ist es Antwort genug.

Richard steht auf, murmelt etwas von Verhandlungen bis zur Verblödung und Kompromisse erzielen. Alma drückt ihren Mund auf die gesunde Wange, die ihr Richard hinhält. Ingrid folgt dem Beispiel ihrer Mutter. Die gute Tat für heute. Richard holt sich seinen Hut, vergewissert sich vor dem Spiegel, daß der Hut gerade sitzt. Er schreitet zügig, ein wenig ächzend, erschöpft bereits in der Früh, aus dem Haus. Die Wagentür schlägt zu. Als der Wagen abfährt, sagt Alma ohne Zorn und Vorwurf:

— Ingrid. Ingrid.

Ingrid beginnt das schmutzige Geschirr wegzuräumen.

— Ich glaube, ich bekomme meine Tage.

Und Alma, abermals ruhig, so, als bringe sie für Ingrids Menses ein gewisses Interesse auf:

— Ich sollte einmal anfangen, deinen Zyklus mitzuschreiben, wäre neugierig, was dabei herauskommt.

— Hack du nur auch auf mir herum.

— Ich hack nicht auf dir herum. Mich beschäftigt, wie es dir geht. Aber du mußt auch ein Minimum an Verständnis für deine Eltern aufbringen.

Ingrid stellt das Geschirr in die Abwasch, dabei verspricht sie dem lieben Gott, daß sie sich bessern wird, wenn sie nur bald ihre Tage bekommt, dann will sie auch wieder einmal beichten gehen, ich habe die Gebete oft nicht, ich habe geflucht und gelästert, ich habe mein Gott gemachtes Gelübde, ich war gegen meine Eltern lieblos, ungehorsam, eigensinnig, frech, ich habe ihnen den Tod, ich war unkeusch in Gedanken, Blicken und, allein und mit, ich hab gelogen, geheuchelt, fremde Fehler verbreitet und fremde Fehler vergrößert, ich war stolz, schadenfroh, unmäßig im Reden, zornig und nachlässig. Am meisten habe ich mit der Sünde der Unkeuschheit.