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Manchmal als Kind hatte sie einen runden Bauch, prall wie eine Trommel. Otto machte sich einen Spaß daraus, nach dem Essen die Bespannung zu prüfen. Sie legten sich auf das Sofa im Wohnzimmer oder in den Garten, der Himmel über ihnen und die Glücksempfindung, weil dort keine Feindbomber rumorten. Otto trommelte auf ihrem Bauchfell. Sie erinnert sich, daß Otto (einmal) sagte (da war er noch beim Jungvolk und brachte von den Heimabenden diesen abenteuerlichen Dialekt mit nach Hause, zum Mißfallen der Eltern: plötzlich hat Ingrid Ottos stimmbrüchige Stimme im Ohr), da verkündete er, trommelnd, und der Satz ist ihr geblieben:

— Ich werde mich als Freiwilliger zum Reichskolonialbund melden, Kisuaheli lernen und zehn Negerfrauen heiraten.

Das war lustig, sie haben viel gelacht.

Trotzdem kann Ingrid sich nicht daran erinnern, daß sie Otto besonders nachgeweint hätte. Sie waren alle niedergeschlagen, auch die Nachbarn, keiner wußte, wieviel Anteil an der Niedergeschlagenheit von welchem Anlaß herrührte. Anlässe gab es immer mehr als nur einen. Und dann scharenweise Rotarmisten im Garten, sie kletterten auf die Bäume, um in den Vogelhäusern nach deutschem Eigentum zu suchen. Die Vogelhäuser, die nicht erreichbar waren, schossen die Soldaten herunter. Ingrid weiß noch, es muß wenige Tage nach Ottos Tod gewesen sein, Mitte April, da blickte von einem der Apfelbäume, die kurz vor dem Blühen standen, einer der gefürchteten Mongolen in ihre Kammer, eines der stärksten Bilder aus jenen Tagen. Ingrid stand am Fenster, ihr Blick traf für einen kurzen Moment die fremd über breiten Backenknochen liegenden Augen des jungen Soldaten. Dann wandte sich der Mann ab. Er stemmte sich ein Stück höher, rüttelte an dem Vogelhäuschen, und eine Amsel flog heraus.

Ihr Mitleid mit der Amsel ist Ingrid stärker in Erinnerung als ihre Trauer um Otto. Vielleicht, weil Otto auch davor oft weg war, auf Lagern und mit den Kanuten. Vielleicht, weil in besagtem Frühjahr die Ereignisse einander überstürzten und überlagerten und weil die Trauer um Otto ständig präsent war und der Schmerz in der Rückschau von anderen Begebenheiten nicht zu trennen ist. Rotarmisten zogen in geschlossener Formation durch die Straße, schwermütige Lieder singend, dahinter Panjewagen, über und über mit Teppichen und Polstern ausgelegt, darauf östliche Frauen in Armeeblusen. Eine größere Gruppe Soldaten campierte für mehrere Wochen in den unteren Räumen. Dann wurden britische Offiziere einquartiert, da gab es erst recht keinen Platz zum Weinen. Die Ernährungsengpässe, das Baden in den Löschwasserteichen, die Schuttaktion, das Eingesprühtwerden mit DDT. Hin und wieder rannte Ingrid zur Ankunft von Kriegsgefangenentransporten, um zu sehen, ob ein Familienmitglied dabei war. Lebt der noch? Lebt der noch? Die Weihnachtsrede von Figl, daß er keine Kerzen geben könne und kein Glas zum Einschneiden, nur den Glauben an dieses Land. Zwei Grippewellen. Ein karger Fasching. Und ehe man sich versah, war Otto ein Jahr tot. Ingrid wechselte aufs Gymnasium. Die Leute vom Film gingen bei den Nachbarn aus und ein. Ihr Vater wurde ins Ministerium berufen, später wurde er Minister. Die Besatzungssoldaten zogen sich in die Kasernen zurück. Der erste Urlaub im Ausland. Das erste Ballkleid und neue Freundinnen. Der Besuch im Tiergarten, wo sie sich von einem Studenten fotografieren ließ. Der hieß Peter. Der verdiente sich mit einer Kamera, die er vom Schwarzmarkt hatte, ein Zubrot vorm Bärenkäfig. Erinnerungsbilder für Soldaten der Roten Armee und für sowjetische Beamte, ein grüngestrichenes Gitter, dahinter ein wie hospitalisiert im Kreis gehender Kragenbär als Symbol für den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg.

Und Peter. Und Peter. Und Peter.

Herzwaswillstdumehr.

Jetzt, das Mäuerchen bequem zwischen den Beinen, etwas, das in Hietzing undenkbar wäre — so hat Ingrid eine Auflagefläche für ihr Anatomie-Buch, in dem sie nicht vorankommt —, wartet sie auf ihren Liebsten. Sie sitzt im trüben Mittagslicht, ihr dunkelblaues Strickjäckchen hat sie ausgezogen, es ist ein Stück hinter ihr plaziert, wo ihr Kopf zu liegen käme, wenn sie sich zurückfallen ließe wie schon zuvor. Lesen und Luft machen sie schläfrig, gähnend kämpft sie dagegen an, gegen die Schläfrigkeit und gegen das zunehmende Gefühl von Verlassenheit, das an ihrer Stimmung nagt. Der Vormittag verstreicht, der Nachmittag bricht an und bekommt eine langwierige Drehung. Als Ingrid obendrein Folgetonhorn hört, kommen ihr Ausritte in den Straßengraben in den Sinn, Kollisionen und Scherbenklirren und die Bilder aus ihrem Anatomie-Atlas. Da ist es endgültig aus mit ihrer Geduld, da ist auch der Schwung ihres Ärgers, daß Peter nicht daherkommt, gebrochen, und sie würde ihm alles verzeihen, wenn er nur gesund und ganz heimkäme.

Um zwei vernimmt sie endlich das charakteristische Tuckern. Sie wendet den Kopf. Der Wagen, ein alter Morris aus Beständen der britischen Armee, schiebt sich in ihr Blickfeld, ein kleiner Kombi mit Farmerkarosserie und am Heck Flügeltüren, die man anheben muß, damit sie schließen. Bemüht, den vielen Schlaglöchern auszuweichen, schaukelt der Wagen die Straße herunter. Als er scharrend und knirschend zum Tor setzt, deckt ein Glücksgefühl Ingrids Sorgen zu.

Sie sagt zum offenen Seitenfenster hinein:

— Wo warst du denn so lange? Wenn du wüßtest, wie froh ich bin, daß du wieder da bist.

Peter steigt aus, sie umarmen sich. Ingrid ist nur wenig kleiner als er. Die Becken der beiden drängen aneinander, Peter drückt ihren Hintern mit beiden Händen zu sich heran. Er löst sich nach einiger Zeit, streichelt ihre Wangen, legt seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und hebt es an, damit er ihr Gesicht betrachten kann. Sie riecht das Öl an seinen Händen. Das kommt daher, daß er immer an der Tankstelle mit dem Öllumpen seine Schuhe putzt.

— Uhh, du stinkst, ich muß mir die Nase zuhalten.

Noch mal ein Kuß (da bleibt ihr eh beinah die Luft weg). Dann drückt Peter mit der rechten Hand Ingrids linke Brust unter dem glatten Stoff ihres Kleides, mit diesem (da überläuft einen das Zittern) verschmitzten Lächeln um den Mund. Er sagt:

— Kann es sein, daß dein Busen in meiner Abwesenheit ein wenig gewachsen ist.

— Vor lauter Langeweile wahrscheinlich.

Und im Gegensatz zur Vergrößerung ihres Bauchumfangs wäre dieser Zuwachs positiv zu werten.

Sie lachen. Peter reibt sich die Knie nach der langen Fahrt. Er geht zum Tor. Auf dem Weg dorthin zieht er seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche, der Schlüssel quietscht in dem rostigen Vorhängeschloß zweimal herum. Ingrid erkundigt sich, wie die Fahrt war. Während Peter die Kette rasselnd aus den Torgriffen zieht und die Flügel des Tors zur Seite klappt, berichtet er erschöpft, glücklich, daß er sich verspätet habe, weil er am Vorabend im Gebiet von Vöcklamarkt einen Reifenplatzer hatte.

— Soll noch einer so ein Pech haben. Für Arsch und Friedrich. Ein Knall und Pfft! Ich glaube, ich habe den Luftzug bis herein ins Auto gespürt.

Er zieht die Schultern hoch.

Er hat anmutige und trotzdem sehr männliche Züge, ein eigensinniges, stilles Gesicht, doch blickt er wach unter seinem dichten, dunklen Haar hervor. Ingrid gefällt, daß er, was Enttäuschungen anbelangt, eine robuste Verdauung besitzt, darauf beruht ein Gutteil seiner Anziehungskraft. Und: Weil sie sich mehr nach Vitalität sehnt als nach jener Sicherheit, die jahrelang und keineswegs nur unter dem Eindruck ihres Vaters auf dem Wunschzettel ganz oben stand, als Belohnung für eine verdorbene Kindheit.