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Er sagt:

— Ersatzreifen hatte ich. Aber die Felge ist in einen Frostaufbruch geknallt, drum mußte ich die Fahrt im Schneckentempo fortsetzen. Immer noch besser, als die Aufhängung in Oberösterreich reparieren zu lassen. Das soll Erich machen, der ist mir einen Gefallen schuldig.

Er hakt die Flügel des Tors an den Seitenwänden des Magazins ein, anschließend leert er den überquellenden Postkasten. Ingrid, die nicht wenig erstaunt ist, daß nach einer Firma, die nichts als Verluste einfährt, eine solche Nachfrage besteht, schiebt ihr Fahrrad in den lichtdurchfluteten Raum. Zwei Werkbänke gibt es hier, eine Drehbank und eine Korrekturabziehpresse, an der Peter nicht mehr arbeitet, seit er in Ottakring drucken läßt. Munitionskisten dienen als Sitzgelegenheiten und zugleich als Stauraum für kaputtes Werkzeug. Ein ausgestopfter Dachs, der aus einem zerbombten Gymnasium gestohlen ist, schnüffelt im rückwärtigen Regal oberhalb der Korrekturabziehpresse an einigen Schachteln der allerersten Version von Wer kennt Österreich? Das Spiel? Ja. Wer kennt Österreich? Ein Reise- und Geographiespiel, das die kleine, besetzte (und bald die Unabhängigkeit wiedererlangende?) Republik in ihrer Schönheit und Harmlosigkeit in den Mittelpunkt stellt.

Mehrere Schachteln dieses Spiels räumt Peter aus dem Laderaum des Morris, zwei Dutzend Reklamationsexemplare, die er auf seiner Vertreterfahrt durch die südlichen Bundesländer und durch Teile von Salzburg zurückbekommen hat. Er seufzt:

— Es fehlt wieder einmal an allem, nur nicht an Arbeit.

— Jetzt vergiß einmal die Arbeit.

Ingrid folgt Peter nach drinnen. Es riecht nach Papier, feuchtem Sägemehl, Rost und Maschinenöl. Es ist ein wenig kühl. Sie setzen sich nebeneinander auf eine der Munitionskisten, pressen ihre Handflächen gegeneinander, verschränken die Finger und drücken zu, bis die Gelenke weiß werden.

— Bestimmt bist du von der langen Fahrt hungrig.

— Und wie.

Peter bläst Luft aus. Nach einer Pause fügt er hinzu:

— Aber in den letzten Tagen war ich so oft im Wirtshaus, daß ich nicht schon wieder ins Wirtshaus will.

— Du willst nur nicht, weil Frau Stöhr Geld von dir bekommt.

Ihm steht das Lächeln schief, ein Blick wie (wie soll man das sagen?): niedergeschlagen im doppelten Sinn, schuldbewußt und —: Ob der sich schämt? Genieren auf jeden Fall.

— Mein Freund, darüber reden wir noch.

Aber vorerst läßt Ingrid ihn in Ruhe. Sie nimmt ihr Rad und fährt zum Greißler. Wieder zurück, ist für die Gemütlichkeit nichts hergerichtet, und Peter, mit weiterhin verrutschter Miene, steckt in Alltagskleidern, in durchhängenden Jeans (wie er an die bloß rangekommen ist?) und in dem unansehnlichen grauen Arbeitskittel, den er von seiner ältesten Schwester zum letzten Weihnachten geschenkt bekommen hat. Er bastelt an den aus dem Leim gegangenen Spielen. Auch Ingrid wechselt die Garnitur, wie meistens, wenn sie im Magazin ist und fürchten muß, sich schmutzig zu machen. Sie hat alte Lieblingskleider hierhergeschafft, Kleider, die sie daheim nicht einmal mehr im Garten tragen dürfte, Kleider als Unabhängigkeitserklärung, so kommt es ihr vor, passend zur Junggesellenatmosphäre im Magazin, passend zu all dem Unfertigen hier, zum Fehlen von Annehmlichkeiten, passend zu dem verschrammten, verbogenen, aber gute Dienste leistenden Elektrokocher, auf dem sie für Peter eine Mahlzeit zubereitet. Krautfleckerl, dazu Salat, Brot, Bier.

— Hände waschen, Mittagessen ist fertig!

Peter hängt den grauen Arbeitskittel an einen Handtuchhaken neben dem Waschbecken. Er schrubbt sich die Hände gründlich bis zu den Ellbogen hinauf. Dann setzt er sich an den kleinen, von Messern zerkerbten Tisch, den Ingrid leer geräumt und mit zwei Munitionskisten in die Mitte des Raumes gerückt hat. Mit unverkennbarem Heißhunger zieht er den Teller, den Ingrid ihm aufgeladen hat, zu sich heran. Er nimmt die Gabel, beugt sich dem Essen entgegen. Ingrid beobachtet ihn beim Zulangen, bei seinen Schluckbewegungen. Manchmal drückt sie seinen Arm oder seinen Oberschenkel, als müsse sie sich vergewissern, daß er hier ist. Seine Augen, sein Mund, jeder Zoll an ihm. Und seine Finger. Es ist schön, ihm zuzusehen, wenn er etwas angreift. Das Brot. Wie er sich das Brot in den Mund schiebt. Er schaut Ingrid über seine Hand hinweg an. Er blinzelt ihr zu. Das freut sie. Er greift sich zufrieden an den Bauch. Ingrid greift sich ebenfalls an den Bauch (die Hoffnung, wie schon seit Tagen, daß das flaue Gefühl auf eine Verstopfung zurückzuführen ist, bittebitte, lieber Gott). Peter streckt das Glas zu einer weiteren Füllung aus, schiebt den letzten Rest des Krauts mit dem letzten Stück Brot zusammen. Er spült mit großen Schlucken, ein behagliches Seufzen, er sinkt nach hinten, in die auf die Munitionskiste gestützten Arme. Einen Moment lang hat es den Anschein, als werde er gleich lächeln. Er sagt:

— Ich liebe dich.

Und Ingrid, die sich ans Abwaschen macht:

— Das will ich dir auch geraten haben. Aber was mir im Moment wichtiger ist als Liebeserklärungen, die dir keine Mühe machen, das sind Antworten auf ein paar Fragen.

Ingrid will von Peter wissen, bei wem er Schulden hat und wieviel. Was an Außenständen vorhanden und noch zu aktivieren ist, also nicht nur illusorischen Wert besitzt. Wo man ihn übers Haxl gehauen hat. Wieviel das Warenlager wert ist, abzüglich der Spielpläne, die er wird wegwerfen müssen, weil — ein weiterer Fehlschlag im Leben des Peter Erlach, ein weiterer Hieb unter die wirtschaftliche Gürtellinie — der Staatsvertrag kommt und die Zonengrenzen fallen. Dann: Mit wieviel er monatlich an Einnahmen rechnet, überschlagsmäßig, inklusive dem, was das Geben von Nachhilfe einbringt. Was an laufenden Kosten anfällt, die Reparaturen am Morris eingerechnet, bei dem mit betrüblicher Regelmäßigkeit der Seilzug der Bremse reißt oder — siehe Vortag — ein Reifen platzt.

Und:

— Wieviel fehlt dir eigentlich von deinem Studium? Es wär zu schön, wenn du das Studium in den Griff bekämst, dann wäre ich restlos glücklich.

Sie trocknet sich die Hände mit einem schmutzigen Handtuch ab, dann holt sie Zettel und Bleistift in der Absicht, Peters Leben in eine mathematische Ordnung zu bringen, daraus ein Zahlenwerk zu machen, ohne einen anderen Wertmesser für Peters Anstrengungen gelten zu lassen als den errechenbaren Erfolg; dazu zählen weder Bekanntschaften, die man auf Reisen macht, noch die Möglichkeit, sich die kleinere Welt anzuschauen, womit doch alles seinen Nutzen habe, so Peter. Er solle endlich, fleht Ingrid, anfangen, wirtschaftlich zu denken, ihr Vater habe ganz recht, wenn er sage, daß man das Glück nicht zwischen Daumen und Zeigefinger nehmen kann.

— Das wäre ja noch schöner.

— Umsonst ist der Tod.

Ingrid rückt energisch näher zum Tisch, schlägt ein Bein unter den Hintern, um höher zu sitzen. Mit ausgefahrenen Ellbogen zieht sie mit einem klobigen Tischlerbleistift Spalten auf Abfallpapier.

— Also los, raus mit der Sprache, nun sag schon, ich will das alles wissen.

Addition und Subtraktion und zwischendurch, damit die Summe rund bleibt, gelegentliche Auf- und Abschläge zu Peters Ungunsten, was unwidersprochen bleibt, ein ums andere Mal, Ingrid könnte wetten, die Zahlen sind nach wie vor geschönt. Acht und sieben und eins und eins und neun und zwei, achtundzwanzig, acht an, zwei weiter, zwei und acht und drei und zwei und neun und sieben und eins, zweiunddreißig, zwei an, drei weiter, drei und vier und neun und drei und fünf und sieben und sechs, siebenunddreißig. Gerundet: