Gestern in der Imkerzeitung der neueste Stand zum Thema Schwärmverhinderung.
Aber die verdeckelten Weiselzellen an den betroffenen Stöcken sind bereits ausgebrochen, das hat nicht viel gebracht. Weiters werden nur Gewaltmethoden empfohlen. Die Königin töten. Die Königin einsperren, entweder im Stock oder durch ein Absperrgitter vor dem Flugloch. Lauter Vorschläge, die seit Jahren jeder macht, die aber zu der Zeit, als Alma die Bienenzucht erlernte, nie erwähnt wurden. Damals hatte Alma auch jahrelang kaum einen Schwarm, und es hieß, es gebe Bienen, deren Schwarmtrieb gering ist, weil ihnen die Veranlagung fehlt.
Diese Bienen hätte Alma gerne zurück.
Sie steht jetzt im Bad und bürstet die Zähne, wäscht sich Hände und Gesicht mit kaltem Wasser, frisiert sich. In Betrachtung der dünnen Morgenfarben auf ihren Lippen muß sie daran denken, daß die Art, wie sie sich als junge Frau fühlte, bei der Arbeit mit den Bienen erhalten geblieben ist. Wenn sie dagegen im Spiegel ihr Gesicht ansieht, läßt sie innerlich immer ein wenig den Kopf hängen, und kein Gedanke kann sich dann gegen das Erstaunen behaupten, daß von der jungen Frau, die Alma einmal war, zwischen den Furchen und Runzeln kaum etwas zu erkennen ist. Auf Fotos schon, interessanterweise. Wenn sie ganz bestimmte Fotos zu einer Strecke nebeneinanderlegt, wirkt es wie die Dokumentation einer allmählich fortschreitenden Baustelle. Abends 17 Uhr: Klick, klick, klick. Aber vor dem Spiegel? Nichts. Vor dem Spiegel? Das soll ich sein? Aber ja. Ja ja ja. Schau sich das einer an. Also schön: Vor dem Spiegel, da muß sie klein beigeben. Da beschleicht sie ein tristes Gefühl, um etwas betrogen worden zu sein, das sie einmal war und jetzt nicht mehr findet. Schon abenteuerlich, wie diese Dinge nicht aufhören einen zu beschäftigen. Wenn es nach ihr ginge, sollte irgendwann eine Phase kommen, in der man resigniert und darauf verzichtet, Kompromisse mit den permanenten Verschlechterungen zu suchen. Sich anmalen ist ja doch nichts Stabiles und macht die Wahrheit nicht erträglicher, es bewirkt allenfalls, daß sich keine Gewöhnung einstellt und der Schrecken in der Früh sich ständig erneuert. Vor einigen Jahren machte Richard eine Bemerkung, die Alma nicht von ungefähr in den Ohren geblieben ist: Daß es, um glücklich zu sein, notwendig ist, die Dinge schöner zu sehen, als sie in Wirklichkeit sind, und daß diese Fähigkeit mit den Jahren nicht nur verlorengeht, sondern sich allmählich in ihr Gegenteil wendet.
So einfach.
Sie wünscht sich all diese Momente zurück, in denen sie Richard bewundert hat. Viele werden nicht mehr hinzukommen. In letzter Zeit geht es Schlag auf Schlag. Oft kann sie schon gar nicht mehr glauben, daß der Mann, mit dem sie unter einem Dach lebt, derselbe sein soll, der sie mit seiner Klugheit beeindruckte, als er jung war. Der Römer, wie ihn seine Kommilitonen nannten. Damals schien das Leben unendlich lang. Sie freuten sich auf spätere Tage und erwarteten. Aber was genau? Was sie erwarteten? Weiß sie gar nicht mehr. Und jetzt? Oft war und ist es, als ob es nicht gewesen wäre.
Anfang vergangener Woche, als Alma mit der Zubereitung eines Milchrahmstrudels beschäftigt war (Richard ißt mittlerweile so süß, daß er sauer gar nicht mehr kennt), kam er zu ihr in die Küche und beklagte sich, daß seine dritten Zähne gebrochen seien.
— Zeig her, sagte sie.
Richard nahm die obere Hälfte bereitwillig heraus und reichte sie ihr.
Wegen eines eitrigen Backenzahns waren 1955 die Feiern zur Unterzeichnung des Staatsvertrags für Richard ins Wasser gefallen. Er fehlt auf sämtlichen offiziellen Fotos und in allen Filmen. Im großen Knirschen über diese optische Absenz, mit der ihm sein Anteil an dem historischen Erfolg genommen wurde, und weil nach dem Reißen auch zwei weitere Zähne zu eitern begannen, kam Richard zu dem Entschluß, daß eine Prothese ihn vor weiterer Unbill dieser Art bewahren werde. Obwohl Alma diese Reaktion in vielerlei Hinsicht (eigentlich in jeder Hinsicht) für dumm hielt, vermochte sie ihrem Mann den einmal gefaßten Entschluß nicht auszureden. In einer Sitzung, die bis weit nach Mitternacht dauerte, ließ Richard sich beide Kiefer ausräumen. Dem Vernehmen nach schlief er trotz der Schmerzhaftigkeit der Extraktionen wiederholt ein. Die Assistentin von Dr. Adametz habe sich mehrmals darum bemühen müssen, den Herrn Minister mit Wasser aus einem Sprüher, wie man ihn zum Fensterputzen verwendet, munter zu machen. Ohne anhaltenden Erfolg, wie es hieß. Das eigentlich Komische war, wenn etwas komisch war (damals, nicht heute, heute ist manches komisch), daß Richard diese Episode bereits unmittelbar darauf hoch angerechnet bekam. Echos seines Schnarchens in der Ordination von Dr. Adametz fanden ihren Weg bis in die Zeitungen, dort brachte man sein Schlafbedürfnis (der Begriff Ohnmachten hätte diese Zustände allerdings besser bezeichnet) mit dem aufopferungsvollen Einsatz fürs Vaterland in Verbindung. Bei einer Festrede anläßlich von Richards Ausscheiden aus dem Amt wurden seine Zähne sogar mit Außenminister Figls Leber verglichen, die dieser sich bei den Verhandlungen mit den Russen ruiniert habe. Ein gewisses Maß an Ironie wird schon dabeigewesen sein, Alma geht davon aus.
— So ein Krempelwerk, schimpfte Richard in der vergangenen Woche. Er schien ziemlich geladen.
— Jetzt beruhig dich doch, sagte Alma. Sie drehte die obere Hälfte der Zähne behutsam zwischen den Fingern.
Es war noch immer dieselbe Prothese, in den fünfziger Jahren teuer wie ein Moped, österreichisches Handwerk, gestützt auf Erkenntnisse aus der noch jungen sowjetischen Weltraumtechnik. Das befremdliche Elaborat war trotzdem nicht für die Ewigkeit geschaffen, und ab Mitte der siebziger Jahre unternahm Alma verschiedentlich dezente und weniger dezente Versuche, Richard zu einem neuen Modell zu überreden. Aber er stellte sich taub. Dabei tat er sich mit den Zähnen oft schwer, und anfallsartig behauptete er, sie paßten nicht aufeinander. Häufig trug er sie statt im Mund in der Hosentasche, hie und da setzte er sich drauf, aber leider fiel nie etwas Ärgeres vor.
Als er diesmal kam, hoffte Alma, daß die Epoche der Staatsvertrags-Zähne endlich vorbei sei. Doch die verlangte Begutachtung führte lediglich zu der Feststellung, daß die von Richard beargwöhnten Sprünge nichts weiter waren als die dem Gaumen entsprechenden Erhöhungen und Vertiefungen.
— Von kaputt kann keine Rede sein. Abgenutzt und schlecht gepflegt, das allerdings.
— Was willst du damit sagen? fragte Richard. In seinen Augen ein Ausdruck unsäglicher Verwunderung und das zur Gewohnheit gewordene Mißtrauen, als gebe er sich inmitten der Disteln und Dornen dieser Welt redlich Mühe zu begreifen, was Alma im Schilde führt.