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Als Kind in einer Ehe, die kaputt ist, sollte man zumindest eines lernen (wenn schon nicht Zärtlichkeit und die Fähigkeit zum Gespräch): Den Umgang mit Unsicherheit. In einer schlechten Ehe gibt es keine Kontinuität. Das schärft den Blick für das Unberechenbare. Das sollte einem helfen (Hilfe! Hilfe! S.O.S.), sich im Leben einzurichten.

Sollte. Sollte.

Haha.

Und dennoch: Da fühlt sich einer (ich) zu einer Frau hingezogen (Johanna), die stichhaltige Prognosen abgibt darüber, wie die Dinge einmal sein werden, zu einer Frau, die bestrebt ist, das Maß an täglicher Unsicherheit zu schmälern.

Insgeheim möchte doch jeder wissen, wie die Zukunft sein wird, und sei es nur, damit es in der Gegenwart leichter fällt, sich einzubilden, daß man weiß, was man tut.

Johanna, die Wettersammlerin, der Wetterfrosch (die Wetterhenne?) sagt: Je geistreicher du zu sein versuchst, Philipp, desto mehr rennst du vor dir selbst davon. Deine Klugheit ist dein bevorzugtes Mittel, dich vor dem zu drücken, wofür du deine Klugheit eigentlich verwenden solltest. Du läßt dich mit Vorliebe auf Dinge ein, die harmlos sind und ungefährlich — auf all das, was sich nicht lohnt. Auf all das, was außerhalb deiner Selbst liegt. Du bist ein Feigling. Feiger als ein Stallhase.

Und weiter: Alles, was du machst, ist ein Versuch, Kontrolle zu bewahren. Deine Passivität ist eine strategische Passivität, die dich vor der Gefahr bewahren soll, dich Dingen auszusetzen, die nicht angenehm sind. Dein Vater hat sich die Aufgabe zum Beruf gemacht, die Wahrscheinlichkeit von Verkehrsunfällen zu minimieren, und du versuchst dasselbe in deinem Privatleben. Du glaubst, du kannst den Katastrophen ausweichen oder wenigstens deine Probleme vereinfachen, indem du dich sowenig wie möglich bewegst. Deine Strategie ist es, drei Meter neben der Straße zu stehen, um den Preis, daß das Leben an dir vorbeigeht. Es ist alles nur, damit die Katastrophe ausbleibt.

— Ja, ja, ich hab es eh schon gewußt. Ich hab’s mir eh schon gedacht. Damit die Katastrophe ausbleibt. Stallhase. Würde nicht sagen, daß das etwas Neues ist. Trotzdem danke für die Belehrung.

Der Regen hat nachgelassen. Mit vor Konzentration gespitzten Lippen trägt Philipp einen Bananenkarton mit allerlei Papieren, die er im Zimmer der Großmutter aus den Kommoden gefischt hat, zum Altpapiercontainer vorne an der Straße. Er denkt sich, daß er für das Zeug sehr wohl Interesse hätte, wenn es statt von ihm von den Nachbarn weggeworfen würde. Aber so: Pech gehabt.

Der Container ist bereits randvoll mit Zeug, das ebenfalls er hineingeworfen hat. Er muß den Container nach vorne kippen und einen Fuß mehrmals in die Papiere stoßen, um den nötigen Platz zu schaffen.

Montag, 7. Mai 2001

Der Abfallcontainer, der schon Freitag nachmittag ausgetauscht worden ist, wird abermals ersetzt, und als der neue Container, der auch optisch ein neuer Container ist, neben der Treppe steht, hat Philipp endlich das Gefühl, mit der eigentlichen Arbeit beginnen zu können. Er wirft in großem Stil weg, was ihm seine Großmutter hinterlassen hat. Angesichts des neu gebrachten und sauberen Containers erscheint ihm diese Vorgehensweise weniger unanständig, wenn auch weiterhin unanständig genug, daß er sich selbst beschwichtigen muß: Denk bloß nicht drüber nach, ob du für dies oder das Verwendung hast oder irgendwann Verwendung haben könntest, überhör Johannas Aufrufe zu schlechtem Gewissen, ignorier die Einflüsterungen, die dir weismachen wollen, daß man’s übertreiben kann und daß einer, der sich so verhält, wie du dich verhältst, ein Leben lang ausgestoßen und einsam bleiben muß. Halt dir vor Augen, daß Selbstschutz ein gesunder Reflex ist und daß es dir freisteht, für dich zu entscheiden, was dir bekommt und was nicht. Erinner dich daran, daß Familiengedenken eine Konvention ist, die von denen erfunden wurde, die es nicht ertragen können, zu sterben und in Vergessenheit zu geraten. Denk an die Indianerstämme, in denen der das größte Ansehen gewinnt, der seinen Besitz am gründlichsten vernichtet, und fahre fort mit der Arbeit, denn sie ist notwendig und gut.

Unter dem Weggeworfenen ist zugegeben viel Tadelloses, Intaktes und Passables, jedenfalls, wenn man es vom Standpunkt reiner Zweckmäßigkeit betrachtet. So wundert es Philipp nicht, daß er von Steinwald bei der gemeinsamen Nachmittagsjause darauf angesprochen wird, ob die Dinge, die im Container landen, auch nach neuerlicher Prüfung nicht mehr gebraucht werden.

— Volltreffer, antwortet Philipp.

Er fügt hinzu, daß es ihm egal sei, was mit dem Zeug geschehe, mit dem Wurf in den Container gebe er jeglichen Besitzanspruch auf.

Also räumen Steinwald und Atamanov den Kofferraum des Mercedes voll. Sie schnappen sich sogar Flaschen mit Totenkopfetiketten, die Philipp für den Sondermüll zur Seite gestellt hat.

Als Philipp Bedenken äußert, das sei dann doch übertrieben, daß sie seinen Sondermüll verkaufen wollen, sagt Steinwald:

— Warum nicht? Die Zeit macht alles wertvoll.

Für derlei Anschauungen besitzt Philipp entschieden nicht das rechte Verständnis. Er erhebt Widerspruch, Ausfallschritt, Parade:

— Man kann das Beispiel genausogut auf den Kopf stellen. Die Zeit macht alles hinfällig, kaputt, überflüssig, nutzlos.

Steinwald zuckt die Achseln, er wirft die Kofferraumtür zu. Dann schleppt er den Cassettenrecorder, dessen Philipp sich vor einer Stunde mit werferischem Geschick entledigt hat, auf den Dachboden, damit sie dort von nun an Musik haben. Cassetten sind in Steinwalds Mercedes reichlich vorhanden. Philipp muß darauf hinweisen, daß er diesbezüglich eine schlechte Verdauung hat. Elton John nennt er zu Steinwalds Empörung einen heillosen Idioten, was aber nicht das schlimmste Schimpfwort ist, das Philipp gebraucht, da Steinwald auch eine Scorpions-Cassette besitzt. Philipp mag ausschließlich die Cassette, die Atamanov gehört. Sie ist mit ukrainischer Tanzmusik bespielt und, wenn Philipp es richtig verstanden hat, der Hauptgrund oder wenigstens einer der Gründe, weshalb Atamanov in Hinblick auf seine bevorstehende Vermählung in Geldnöten steckt. Atamanov scheint entschlossen, die teuerste Kapelle zu engagieren, die bei ihm daheim aufzutreiben ist, acht Mann, ein halbes Orchester.

Zur Musik dieser Kapelle tanzt Philipp in der Nacht zwei Stunden lang in Gummistiefeln über den Estrich des picobello gesäuberten, aber weiterhin stinkenden Dachbodens. Das Fenster ist wieder instand gesetzt, die Scheiben wie nicht vorhanden, der Mond voll. Und auch das Maß ist voll. Mit einer Flasche krisenmildernden Kirschrums in der Hand, den seine Großmutter vermutlich zum Kuchen- und Keksebacken verwendet hat, dreht sich Philipp mit ausgestreckten Armen im Kreis und versucht zu vergessen, daß Johanna ihm seinen Fotoapparat noch immer nicht gebracht hat. Seit dem 1. Mai hat sie sich nicht mehr sehen lassen. Er tanzt wie ein Verrückter, er zertritt mehrere Würfel mit Rattentod, und in den Pausen zwischen den Musikstücken riecht er den Moder und den Schimmel, die aus dem Mauerwerk strömen, und hinter der Dachverkleidung hört er die Mäuse rennen.

Samstag, 29. September 1962

Der Regen hat inzwischen aufgehört. Noch laufen Rinnsale durch die Furchen, die sich das Wasser im Schotter der Auffahrt gebahnt hat. Aber im Westen, woher die Wolken gekommen sind, klart es bereits wieder auf. Zaghaft sickert Licht durch vereinzelte Wolkenlöcher. Gleich werden dort oben die Nähte platzen.