Er findet, er hätte sich einen anderen Abschied verdient, und im nachhinein besehen war es ein Fehler, daß er nach der letzten Wahl nicht ins Direktorium der E-Werke zurückgekehrt ist. Aber das ist mittlerweile ein ermüdender, fast schon peinlicher Gedanke, weil in die Vergangenheit gerichtete Spekulationen billig zu haben sind. Entscheidend ist a), daß ihm diese Tür nicht mehr offensteht, weil man ihm b) auch von seiten der E-Werke altersbedingt die Pensionierung nahelegen würde, und c), daß folglich kulturelles Tamtam auf ihn wartet, Gartenarbeit, Zithermusik, Tennisturniere und die Mitgliedschaft im Beschaffungsausschuß diverser Bälle samt Ehrenschutz und Eröffnungswalzer mit einer Frau, die kurz nach Mitternacht zum Aufbruch drängt. Nein danke. Wenn er sich die Details ausmalt, wird ihm schlecht, richtig schlecht, da rumort etwas in seiner Magengrube. Er will diese Kröte nicht schlucken. Er hat für die Arbeit gelebt, Wochen ohne Sonn- und Feiertage, in denen er politisch für das Privatleben der Leute eintrat, während sich bei ihm zu Hause die Niederlagen summierten mit dem Effekt, daß er sich weiter in Richtung Ministerium zurückzog. Dort hat er seit 1948 alles im Rahmen seiner Möglichkeiten gemeistert. Noch in diesem Jahr wird die letzte Gaslaterne in Wien erlöschen, nahezu wöchentlich weiht irgendwo ein Pfarrer ein Transformatorenhäuschen ein. Er, Dr. Richard Sterk, Der Römer, hat Turbinenhallen bauen lassen groß wie Opernhäuser. Er hat mitgeholfen, den Platz zu schaffen, den der Wohlstand benötigt, um sich auszubreiten. Und jetzt? Jetzt wollen sie ihn kopfüber nach Hause werfen.
Dr. Gorbach sagte im Café Dommayer:
— Dann hast du Zeit für all das, was du dir immer vorgenommen hast.
Richard faßt es nicht.
— Den Spruch werde ich mir rahmen lassen, gab er zur Antwort.
Ja? Ja? Wie bitte? Soll er jetzt den einsamen Mann spielen? Soll er wie Alma ein Buch ums andere lesen, um klüger zu werden, aber ohne die Möglichkeit, die neue Klugheit noch anwenden zu können? Es mutet ihn an wie Hohn. Denn es stimmt, daß er Zeit braucht. Aber Zeit in einem völlig anderen Sinn, Zeit als Frist, Zeit zur Vorbereitung auf die sich ändernde Situation, die in erster Linie von einem bedrohlichen Überfluß geprägt sein wird. Richard hat sich nichts immer vorgenommen. Er hat geglaubt, daß seine eigene Zukunft eng genug mit der Zukunft der Republik verknüpft sein wird und daß sich daraus ganz von selbst Effekte auch für ihn ergeben werden. Ein fundamentaler Irrtum, wie ihm jetzt aufgeht. Vaterland gerettet, doch das gilt nicht für ihn. Er, der den Staatsvertrag mit ausverhandelt hat, aber auf den wichtigen Fotos fehlt. Pech gehabt. War lange genug ein hohes Tier. Soll zusehen, wie er zurechtkommt. Du bist erwachsen, Dr. Sterk, na los. Stimmt, ich bin erwachsen. Hab ich das nötig, mich so behandeln zu lassen. Die können mir mal alle den Buckel. Und Hut drauf.
Richard legt ächzend den Kopf an den hinteren Rand der Wanne, das kühlt seinen Nacken und gibt ihm das Gefühl, alles sei halb so schlimm. Er starrt hinauf zur Decke und spürt, wie sein ganzer Körper schlaff wird. Geistig hingegen fühlt er sich nach all den Aufregungen sehr konzentriert, sehr hell, was in letzter Zeit selten genug vorkommt. Wahrscheinlich, weil er ständig überarbeitet ist.
Vielleicht sollte er einfach versuchen, das Beste daraus zu machen, und die naturwissenschaftlichen Interessen, die er als junger Mensch hatte, wieder mehr pflegen. Die perfide Mischung aus Ehrenämtern und nichts als Privatleben ließe sich mit etwas trockener Materie vielleicht entschärfen. Zum Beispiel könnte er endlich der Frage nachgehen, ob bereits jemand herausgefunden hat, warum Wasser zuweilen vergißt zu gefrieren. Er hat in der Schule davon gehört, das Phänomen ist ihm nie ganz aus dem Sinn gegangen. Damals hieß es, der vergessene Vorgang werde bei der geringsten Erschütterung nachgeholt, und zwar innerhalb von Sekundenbruchteilen. Das imponierte ihm. Wäre interessant zu wissen, woran das liegt. Das heißt, eigentlich ist es ihm egal, mal abgesehen davon, daß darin ein Keim jener Hoffnung steckt, ein Nachholen von Dingen, die man irgendwann versäumt hat, könnte möglich sein.
Ob auch Zeit vergessen kann zu vergehen, liegengebliebene Zeit, die man berühren muß, um sie zum Verstreichen zu bringen? Hundert Jahre, die in einem kurzen Moment vergehen, ganz schmerzlos?
Für einen Augenblick, während er diesen Gedanken hat, kann er sich sogar vorstellen, daß er die geänderte Situation genießen wird. Es muß ihm nur gelingen, gelassener zu werden, all das wegzudrängen, was ihm am Herzen hängt. Und weil er ein methodischer Mensch ist, nimmt er dieses Projekt sogleich in Angriff, und zwar anhand dessen, worum es in seinem Leben, wie er meint, momentan vor allem geht: der Zeit.
Mit auf- und zuklappenden Beinen erzeugt er Wellen, schaut diesen Wellen bei ihren Bewegungen zu und fragt sich dabei, ob die Zeit tatsächlich arbeitet. Na ja, denkt Richard, arbeiten wird sie auf jeden Fall, aber vermutlich nicht für ihn oder für andere, sondern nur für sich selbst. Ob man einen Wettlauf mit der Zeit gewinnen kann. Vielleicht wie im Märchen vom Hasen und dem Igel, indem man sich reproduziert, siehe Ingrid, die ihn zum Großvater gemacht hat. Ob man Zeit an der Hand haben kann — vergleichbar mit einem Sohn, der den Vater an der Hand nimmt und zu einem toten Tier führt.
Ob die Zeit je an Bedeutung verliert?
Er weiß, seine Person verliert an Bedeutung, und nicht nur an Bedeutung, auch an Elan und Willenskraft, an Attraktivität, an geistiger Aufnahmefähigkeit. Die Liste ließe sich noch eine Weile fortsetzen. Doch das gute Gefühl, sich noch eine Weile behaupten zu können, ist so oder so dahin, da will er auf weiteres Nachdenken gerne verzichten.
Die Wellen laufen immer wieder in der Mitte der Wanne aufeinander zu, Bauch und Wannenrand, hin und zurück, Havarie. Richard gleitet mit dem Oberkörper tiefer ins Wasser, die Knie seiner abgewinkelten Beine stoßen jetzt als Inseln hervor, sein Kopf taucht unter, mit geschlossenen Augen, die Nasenflügel zwischen zwei Fingern. In etwa so wird die Zukunft aussehen. Das wohlig warme Wasser, das ihn umgibt, das schmierige Wasser vom September 1962, das ist der Alltag ist der Ruhestand ist die Einsamkeit ist die Trauer ist der Raum die Distanz ist der Untergang. Prustend kommt er wieder hoch. Er seift sich den Kopf ein, läßt heißes Wasser darüberlaufen. Er wäscht sich die Achselhöhlen, kratzt sich, liegt wieder reglos. Sein Bauch wölbt sich armselig, wabbelige Lappen mit mehreren tiefen Falten dazwischen und ohne einen Hauch von Bräune, obwohl der Sommer gerade erst vorbei ist. Keine Muskeln, alles Fett, aufgequollen, das Fett der sieben fetten Jahre. Dunkle und graue Haare darauf, rings um einen käsigen Nabel, als gehe von dort ein magischer Sog aus. Die Haare wehen schlaff in der leichten Strömung, die seine Atmung und sein Puls verursachen, kann sein, es sind seine Hände, die ein wenig zittern. Vielleicht. Ansonsten rührt er sich einige Minuten lang nicht. Schließt die Augen. Ja. Ja. Und in der Erinnerung taucht eine Zeit auf, da fingen Alma und er an gemeinsam zu baden. Fingen es an und hörten es wieder auf.
Wann das war? Er weiß es nicht mehr genau. Nicht am Anfang, eher in den vierziger Jahren, als Alma nicht mehr mit den Kindern badete und die Kinder viel außer Haus waren. Otto mit der Hitlerjugend und den Kanuten, Ingrid im Rahmen der Kinderlandverschickung. Otto ist schon länger tot, als er gelebt hat. Und Ingrid? Die macht es ihm wahrlich nicht leicht, so eine Unverträglichkeit, das hat er noch nicht erlebt. Grundsätzlich sind die andern schuld. Da fällt ihm ein —. Das war nicht immer so. Wann wird es gewesen sein? Frühsommer 1943. Oder 1944? Mondsee. Schwarzindien, das weiß er noch. Schwarzindien hieß das Wirtshaus, in dem Ingrids Klasse untergebracht war. Vage hat er noch den Ton von Ingrids kindlichem Stolz im Ohr. Mädel vom Dienst im sommerlichen Schwarzindien, Fahnendienst im stürmischen Schwarzindien. Küchendienst, Tagraumdienst, Stubendienst, Waschraumdienst, Schuhdienst, Verdunkelungsdienst. Er hat die Einteilungsliste gesehen, als er Ingrid besuchte, im Zuge von Ingrids Degradierung zum langfristigen Klosettdienst. Dieses dürre Mädchen mit den Pinocchio-Beinen, dem man gar nicht genug Eisen verabreichen konnte, damit es ein bißchen Farbe bekam. Bei der Essensausgabe hatte sie beanstandet, daß die Lehrerin ein Stück mehr auf dem Teller hat als sie. Der Aufruhr, den diese Bemerkung nach sich zog, war trotz Kriegslärm bis nach Wien zu hören. Bei Richards Ankunft, das wird er so schnell nicht vergessen, warf sich ihm ein todunglückliches Mädchen in die Arme, blieb den ganzen Tag an seinen Hals geklammert, pendelte zwischen Weinen und Benommenheit und dem hochheiligen Versprechen, in Zukunft bestimmt das Hirn einzuschalten, bevor sie etwas sagt. Verschreckt, eingeschüchtert und wie blöde davon. So kannte er Ingrid gar nicht. Das heulende Elend. Er ließ sie reden auf der Aussichtsbank mit Blick auf den Mondsee, die Berge und Wolken spiegelten sich darin. Zwischendurch Heulen: Papa, das wird mir eine Lehre sein, das schwör ich. Jaja, das sollte es, Kindchen, wirst sehen, dann renkt es sich wieder ein. Oder sonstwas an Allerweltsweisheit. Da redet man stundenlang vor dem Nationalrat, und wenn die Tochter Kummer hat, fällt einem nichts ein.