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Richard denkt, das beste wäre gewesen, Peter vor fünf Jahren ein dickes Kuvert zuzustecken mit der Aufforderung, sich nicht mehr blicken zu lassen und woanders sein Glück zu versuchen. Das wäre billiger gekommen als der Hauskauf.

Wie schon am Vormittag im Café Dommayer, als er mit Dr. Gorbach das enttäuschende Vieraugengespräch hatte, spürt er Trostlosigkeit und Ohnmacht angesichts all dessen, wofür er kein Verständnis aufbringen kann. Eine unbestimmte, dumpfe Trauer befällt ihn, ihm ist, als würde er seinem Leben nachtrauern, noch während er es lebt.

Und weil mittlerweile auch ihm das Reden vergangen ist, läßt Richard sich dazu herbei, an der Suche nach der Puppenküche teilzunehmen. Er schaut dort nach, wo Peter sich bislang nicht hingetraut hat, um gebührenden Abstand zu seinem Schwiegervater zu wahren. Erst jetzt fällt Richard auf, daß das Bett, neben dem er steht, aus der ehemaligen Kammer des Kindermädchens stammt. Das Bett ist ohne Matratze, ein bloßes Gerippe. Richard hebt eine auf dem Rost liegende, großformatige Mappe mit alten Stichen und Radierungen hoch. Einige Federn des Rostes sind gebrochen, allen anderen Federn ist nicht mehr zu trauen. Sonderbar, daß sie früher gehalten haben. Sonderbar, daß Richard mit Frieda in manchen Nächten glücklich gewesen sein will. Sonderbar, daß er einen Augenblick lang auf dem Bett ein rothaariges Mädchen von zwanzig Jahren knien sieht, in völliger Nacktheit, wohingegen die unqualifizierte Figur seines Schwiegersohnes, der schon bisher durch alles hindurchzublicken schien, auch durch diesen Bettrost hindurchblickt auf einen Koffer aus Pappkarton.

— Das wird er hoffentlich sein, sagt Peter.

Richard, abwesend, wie mit sich uneins, ob er sich ebenfalls freuen soll (er weiß noch, daß Frieda geweint hat, als sie ihre Kündigung erhielt, sie schrieb hundertmal Ich hasse dich auf die Tapete in ihrem Zimmer, was erst auffiel, als das Mädchen bereits auf der Bahn war), er sagt:

— Ja, anzunehmen, das wird er sein.

Sie räumen den Laderaum des Kleinbusses voll. Richard hat den Verdacht, Ingrid und Peter wollen den Besuch möglichst kurz halten, da ist Sissis Quengeln und Werfen von Gegenständen ein willkommener Vorwand. Daß Kinder um sieben ins Bett gehören, ist eine Erfindung des Biedermeier, und auf das Biedermeier, wie Richard festgestellt hat, legt Ingrid keinen Wert. Ein Stück von Almas Kuchen, geschlungen, ein Glas Bier, geschüttet. Ein Korb mit Danziger Kantäpfeln zum Mitnehmen. Benzingeld aus der generösen Hand des Vaters. Immer zu Diensten. Und dabei das deutliche Gefühl auf seiten Richards, daß ihm, gleichgültig, was er macht, die Gabe, von sich zu überzeugen, abhanden gekommen ist, daß er nicht mehr zu den Menschen gehört, bei denen sich das Blatt schlagartig zum Guten wendet. Der Bus schaukelt an, das Licht der Scheinwerfer streift über die gewaschenen Kiesel, die gleich darauf von den Wagenreifen herumgeworfen werden, die schmutzige Seite nach oben. Kurz eine erhobene Hand im Fensterspalt der Beifahrerseite, wieder zurückgezogen. Und auch der Bus ist gleich darauf weg, mit hängender, wippender Stoßstange, stotternd im schon dichter werdenden Dunkel, hinaus durch das Tor und weg, weg, wie das geht, darüber im hellblaugrauen Himmel der gelb leuchtende Halbmond, in stabiler Seitenlage, über dem Wienerwald, kann sein, daß der Mond dort oben die Ursache dafür ist, weshalb das Grün der Bäume noch schimmert.

— Das war’s für heute, sagt Richard.

Etwas vom verwirrenden Eindruck des Besuchs muß auch bei Alma haftengeblieben sein, denn sie beschließt, in der Dämmerung noch Nüsse einzusammeln.

Eine ganze Weile sieht Richard ihr von der Vortreppe aus zu. Leichter Laubgeruch zieht ihm in die Nase. Er blickt auf die Uhr. Zwanzig vor acht. Er schneuzt sich, schließt dabei die Augen und macht sie erst wieder auf, als sich über den Schotter Almas Schritte nähern. Gemächlich kommt sie heran, mit einem kleinen Eimer in der Hand. Richard nickt ihr zu. Wieso? Er weiß selbst nicht wieso. Rasch wendet er sich ab. Mit einem Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit geht er auf sein Zimmer und sperrt sich ein.

Dienstag, 22. Mai 2001

— Du bist eine einzige Katastrophe, sagt Philipp, als Johanna sich wieder blicken läßt: Du bist so unglaublich katastrophal, es ist ein solcher Skandal, daß du es wagst, dich drei Wochen lang nicht anschauen zu lassen. Ich fasse es nicht. Wenn ich je wieder ein Interview geben muß und gefragt werde, was ich für den größten Skandal halte, werde ich nicht mehr nachdenken müssen und wie die Kugel aus dem Rohr eine Antwort wissen: Der größte Skandal bist du, Johanna Haug, ein so unglaublicher Skandal, daß du eigentlich unverzüglich Schluckauf bekommen müßtest. Aber du legst dich auf meine Matratze und ärgerst dich über die Bezüge, schläfst zwei Mal mit mir, stellst den Wecker, und wenn du wieder zu Hause bist, hast du bereits vergessen, daß du bei mir warst. Solche Skandale tropfen dir reihenweise von den Fingerspitzen. Gib zu, daß das sogar dir leid tut!

Johanna strampelt mit den Beinen, reibt den nackten Hintern am Leintuch, wirft die Decke mit den Beinen beiseite und sagt, ehe über Eingeständnisse ihrerseits verhandelt werden könne, müsse Philipp erst einmal zugeben, daß die Bettbezüge häßlich sind.

— Ausgerechnet violett, sagt sie: Das macht alles, was dem Bett auf zwei Meter nahe kommt, ebenso häßlich. Und ausgerechnet ich liege mittendrin.

Sie lacht und küßt ihn, und er lacht mit, obwohl ihm gar nicht nach Lachen ist, Johanna steckt ihn nur an. Er will nicht angesteckt werden, das weiß er, noch während er lacht, weder vom Flor der Bettbezüge noch von Johanna.

— Du häßliches Entlein von einer Meteorologin, sagt er, nachdem sie beide zu Ende gelacht haben: Für Filme geben sich Regisseure viel Mühe mit dem Wetter, das fällt jedem auf oder sollte wenigstens jedem auffallen. Neuerdings lassen sie sogar Frösche regnen, etwa vierzig Millionen, was bestimmt in die Filmgeschichte eingehen wird. Trotzdem kann ich nur lachen, wenn ich daran denke, denn das ist alles ein Witz gegen das, was ich erlebe.

— Ach.

(Vielleicht sollte ich einfach ein bißchen rausgehen oder radfahren oder laut singen oder ins Kissen boxen. Wie schön zu wissen, daß auch das wieder vorbeigehen wird.)

Philipp zieht sich notdürftig an. Ehe er mit Johanna aneinandergerät, was unmittelbar bevorsteht, verdrückt er sich lieber eine Zeitlang in den Garten. Dort dreht und wendet der Wind die Blätter, denen die Nacht ein körniges Grau zugewiesen hat. Eben war’s doch noch hell. Philipp stellt sich breitbeinig zu einem Pflaumenbaum, der rippig dürr und abgeblüht ist, holt seinen klebrigfeuchten Penis heraus und pinkelt gegen den Stamm, mit einem angenehmen Brennen in der Harnröhre, weil er gerade gevögelt hat. Die Sterne stehen ruhig. Das Haus hat in dem spärlichen Licht an Vertrauenswürdigkeit gewonnen, keine Spur mehr von der Schäbigkeit und dem Moder. Selbst die unangenehmen Erinnerungen, die hartnäckig hinter den Fenstern lauern, sind für den Augenblick verblaßt. Philipp schlenkert die letzten Tropfen ab, trabt tiefer in den baumdunklen Garten hinein, seltsam entschlossen, manchmal zaghaft, einen Moment später wieder trotzig, in alle Fallen stolpernd, die diese Nacht ihm gestellt hat.