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Im nächsten Garten hat Philipp mehr Glück. Dort, wo er vor Wochen mit einer Drahtbürste bedroht worden ist, sitzt an diesem Nachmittag eine junge Frau auf einer Wolldecke im Rasen und liest. Eine Rothaarige mit Sommersprossen. Sie bemerkt Philipp nicht, entweder weil er kaum Geräusche macht oder weil sie so in ihre Lektüre vertieft ist, daß sie ihre Umgebung nicht wahrnimmt. Philipp schaut ihr eine Weile zu. Irgendwann ruft er sie an und fragt, was das für ein Buch sei.

Sie sieht auf, ohne sonderlich überrascht zu sein, hält das Buch hoch, aber aufgrund der zu großen Entfernung kann Philipp nicht erkennen, was es ist.

— Ist es gut? fragt er.

Die Frau macht eine vage Handbewegung, die entweder nicht viel besagt oder dem Buch kein allzu gutes Zeugnis ausstellt.

Also bietet Philipp Lektüre aus seinem Fundus an, die Frau könne über die Mauer klettern und sich ein Buch aussuchen.

— Geht nicht, ruft sie, froh um ein gutes Argument: Ich bin schwanger.

Diese Auskunft trifft Philipp unvermittelt. Er denkt, da ist mir schon wieder einer zuvorgekommen, du versäumst alles, sie ist schwanger, und bei dir ist gar nichts.

Die Frau sagt:

— Zwillinge.

— Bitte?

— Ich bekomme Zwillinge, ruft sie und freut sich, als ob sie eben erst davon erfahren hätte.

Philipp freut sich ebenfalls, denn daß eine Frau mit Zwillingen schwanger ist, hat er bisher noch nie erzählt bekommen.

— Ja großartig, ruft er: Und weiß man, wer der Vater ist?

Die Frau lacht, wird ein wenig rot. Sie schüttelt den Kopf, aber so, daß klar ist, daß sie damit Philipps Frage nicht beantworten, sondern lediglich kommentieren will. Philipp lacht zurück. Das Lachen schmerzt ihn an den Ellbogen, und er muß sich ein wenig hochstrampeln, damit er in eine bequemere Position kommt. Dabei verliert er den rechten Gummistiefel. Dann liegt er mit dem Bauch auf den Dachziegeln, mit denen die Mauer, zum Haus hin schräg abfallend, gedeckt ist, und zwar so, daß der Oberkörper über die Mauer ragt, als stecke der unsichtbare Rest in einer himmelwärts gerichteten Kanone. Philipp weiß nicht, was er mit seinen Händen anfangen soll, und fühlt sich seltsam abseitig oder kommt sich sehr dumm vor oder einem Traum entsprungen und sagt, um von seiner mißlichen Situation abzulenken:

— Könnte ja sein, daß ich der Glückliche bin.

Die Frau schaut ihn durch eine Locke hindurch neugierig an, als sei der Gedanke eine Überlegung wert, dann sagt sie:

— Sie sind es nicht.

Aber es wäre möglich gewesen, denkt er. Freilich, das Mögliche in der Vergangenheitsform ist das Vergebliche. Trotzdem ist Philipp zufrieden mit der Antwort.

Sie unterhalten sich eine Weile über Zwillinge, wie das sein wird, wenn beide Kinder krabbeln können, gleichzeitig in verschiedene Richtungen. Aber der mangelnde Komfort auf der Mauer raubt Philipp nach einiger Zeit die Luft, er bekommt starke Schmerzen an den Rippen, so daß er das Gespräch beenden muß. Die Frau nickt, als er seinen Abgang ankündigt. Sie greift mechanisch nach ihrem Buch, läßt Philipp aber nicht aus den Augen, bis er hinter der Mauer verschwunden ist.

Eigentlich ist Philipp auf allen Mauern seines Lebens eine Randfigur, eigentlich besteht alles, was er macht, aus Fußnoten, und der Text dazu fehlt. Etwas in der Art, etwas in dieser jämmerlichen Schönschreibart, sagt er zu sich, und er sagt es in einer Mischung aus Stolz und Trotz, denn der Gedanke, daß er Nähe nur dort sucht, wo er keine Gefahr läuft, vereinnahmt zu werden, kommt ihm für einen Moment wie der Beweis seiner Souveränität vor — wenn ihm auch gleichzeitig klar ist, daß er sich etwas vormacht. Trotzdem (trotzdem, trotzdem) fühlt er sich durch diesen Gedanken gestärkt (auch die Begegnung mit der Schwangeren hat seine Laune ein wenig gebessert), und so beschließt er, den günstigen Wind zu nutzen und in seinem Zimmer, dem ehemaligen Nähzimmer, die Tapeten herunterzureißen.

Freitag, 30. Juni 1978

Im knisternden Radio ein Vortrag über Alternativenergien, in dem davon die Rede ist, daß das vermehrte CO2 in der Luft zu einer Erwärmung der Erdatmosphäre führen wird, wodurch die Eismassen an den Polen teilweise abschmelzen, was wiederum den Meeresspiegel um fünf bis acht Meter ansteigen läßt. Venedig bis zum Hals, New York bis zu den Knien im Wasser.

— Wir würden besser nach New York fahren, sagt Sissi, die zukünftige Berufsrevolutionärin, die mit offenem Mund an ihrem Reisekaugummi kaut.

Ihre Urlaubshalluzinationen, das kann Peter sich lebhaft vorstellen, umfassen U-Bahnen, Müllgeruch, Plätze mit Panflötenspielern und in den Museen Bilder, auf denen die Porträtierten beide Augen auf einer Wange haben und aussehen wie Ufonen. Dazu langhaarige Typen, die an den Ecken stehen und bei jedem jungen Menschen, der vorübergeht, zwischen den Zähnen zischen.

— Was uns an der Adria alles Schönes erwartet, sagt er.

— Ich wüßte nicht was, kontert Sissi, siebzehn, ein mittelgroßes, schlankes Mädchen mit fuchsrot gelockten, völlig willkürlich geschnittenen Haaren.

— Sonne und Meer, sagt Peter.

— Und die Glocken an den Fischernetzen, die wie auf einer Ziegenalpe klingen. Willkommen daheim.

Sie befinden sich auf der Fahrt nach Jugoslawien, wo sie auch den großen Urlaub des letzten Jahres verbracht haben. Diesmal wollen sie campen, weil sich die Hotels im letzten Jahr teilweise in einem Zustand präsentierten, daß nicht einmal Peter je zuvor etwas ähnlich Trostloses vor Augen gekommen ist, nicht einmal als er in den fünfziger Jahren mit seinen Spielen durch Österreich tourte und bei seiner Quartierwahl nicht allzu wählerisch war. Durchhängende Betten, beim WC fehlte mehrfach das W. An einem der letzten Tage holten sie sich nahe bei Dubrovnik Flöhe. Als Peter nachts von den Bissen wach wurde und Licht machte, hüpften die Flöhe zu Hunderten auf ihm und den Kindern herum. Wie Staub, der auf Dachböden in Lichtstrahlen tanzt.

Er weckte die Kinder und rief:

— Sachen zusammenpacken!

Nach fünf Minuten waren sie draußen und wechselten über die Straße in ein anderes Hotel, obwohl sie das Geld für das erste Zimmer nicht erstattet bekamen; da müsse man auf den Manager warten. Die Rückfahrt nach Wien war dann alles andere als komfortabel. Aber unterhaltsam: Wer die meisten Flöhe zur Strecke bringt. Sie lachten viel. Zu Hause mußte Peter jedoch gut 300 Schilling für Flohpulver, Flohsprays und ein Flohhalsband für Cara ausgegeben, und trotzdem blieb drei Wochen lang immer irgendwo eine Gruppe zurück, die nach einigen Tagen des Stillhaltens über eines der Kinder herfiel.

Um derlei Vorkommnissen diesmal aus dem Weg zu gehen, werden sie in der Nähe von Porec zelten. Unter Olivenbäumen, zwischen wilden Schildkröten. Nettere Gesellschaft. Es wird herrlich sein.

Trotzdem nörgelt Sissi:

— Papa, ich will nicht campen. Bitte.

Er sagt:

— Dem Antrag wird nicht stattgegeben.

— Ich bin doch kein kleines Baby mehr, das nicht auf sich selbst aufpassen kann. Sogar die Eltern von Edith erlauben ihr, daß sie auf Interrail geht.

— Vielleicht, weil Ediths Eltern selbst nicht in den Urlaub fahren. Da bist du besser dran.

Nervös läßt Sissi das Gummiband schnellen, das sie an ihrem linken Handgelenk trägt — gegen den bösen Blick (eine von Sissis typischen Auskünften auf angeblich dumme Fragen). Im Ton herablassender Empörung sagt sie:

— Nur mich fragt wieder mal keiner.

— Ich brech gleich in Tränen aus. Du wirst Spaß haben, und außerdem wirst du dich erholen.