— Wenn meine Erholung deine einzige Sorge ist.
— Es ist zumindest eine, mein Gott.
— Ich würde mich aber besser erholen ohne euch.
— Indem du im Zug zwischen Innsbruck und Neapel am Gang schläfst. Nach meiner bescheidenen Meinung —.
— Immer noch besser als im Zelt mit euch Schnarchern.
— Es war der Hund, der geschnarcht hat.
Ach ja? Sissis rechter Mundwinkel hält dem Lächeln des linken stand. Ihr Kopf wackelt in lautloser Erheiterung hin und her. Sie sagt kühclass="underline"
— Wenn du willst, laß ich dich in dem Glauben. Es gibt noch andere Gründe, warum mir dieser Urlaub schaden wird. Weil Familienleben die Persönlichkeit zerstört.
— Jetzt hör aber auf.
— Man braucht sich nur umzuschauen.
— Da frag ich mich aber, wo du deine Augen hast.
— Ich frag mich, warum ausgerechnet du derjenige sein willst, der weiß, was gut für mich ist.
Peter lenkt den Wagen kurzfristig bloß mit der Linken. Scherzend (das hat er auch schon besser gekonnt) hebt er den Zeigefinger der Rechten in die Lücke zwischen den Vordersitzen und verkündet:
— Weil ich ein paar Jahre mehr am Buckel habe als du.
— Ich bin genauso alt wie Mama, als du sie kennengelernt hast.
— Dann weißt du bestimmt auch, daß deine Mutter damals spätestens um sechs zu Hause sein mußte, sonst fing sie sich was. Sie ist noch mit Anfang zwanzig mit ihren Eltern in den Urlaub gefahren, und nicht nach Jugoslawien, sondern nach Bad Ischl.
— Sie wird es gehaßt haben. Das zipft mich so an, immer mit euch mitzockeln.
Und kurze Zeit später, unter beredtem Seufzen:
— Ich würde mir so sehr einen liberaleren Vater wünschen.
Peter lenkt den Wagen über die Bundesstraße am Semmering, wo Ingrids Eltern einen Garten besitzen; in Schottwien. Das letzte, was Peter über den Garten gehört hat, ist, daß er von der Schwester seines Schwiegervaters genutzt wird. Von Tante Nessi und ihrer versnobten Familie.
— Ich bin liberal, wendet er ein: Als nächstes käme die totale Teilnahmslosigkeit, die hast du mir auch schon vorgeworfen.
Im Rückspiegel sucht er Sissis Augen. Sie hält seinem Blick für diesen kurzen Moment stand, ein müdes Lächeln auf den Lippen, das Bände spricht. Peter weiß, daß sie ihn ansieht wie etwas, dessen Qualitäten man nicht besonders hoch veranschlagt, in einer Mischung, wo das Bedauern die Verwunderung überwiegt. Man müßte sie für zwei Wochen in die Ferien zu einem ihrer Großväter schicken, sie dürfte sich sogar aussuchen, zu welchem, da käme sie schon nach der halben Zeit zurück, hoffentlich mit bescheideneren Ansprüchen und objektiveren Begriffen von dem, was man unter liberal zu verstehen hat.
Sissi sagt:
— Du bist nur liberal, solange es für dich bequem ist.
— Wenn ich’s bequem haben wollte, wärst du längst auf der Eisenbahn, da könnte ich’s billiger haben. Meine Meinung ist, daß ich sogar erstaunlich liberal bin, geduldig, gutmütig und großzügig. Genau so, wie ich es mir von meinen eigenen Eltern gewünscht hätte. Ich habe mir nämlich auch gewünscht, daß sie liberaler wären.
— Sie waren Nazis, sagt Sissi.
Obwohl der Vorwurf auch ein wenig ihm zu gelten scheint und obwohl er es satt hat, sich wegen seiner Geburt und seines Jahrgangs und seiner wie in einem Giftschrank weggesperrten Kindheit schuldig zu fühlen, läßt Peter den Vorwurf auf sich sitzen. Er will nicht schon auf der Hinfahrt mit Sissi zusammenkrachen. Seit Ingrids Tod hat er sich ein paar Strategien zurechtgelegt, wie er mit den Kindern über die Runden kommt. Und er sieht auch ein, daß zutrifft, womit ein Arbeitskollege ihn unlängst trösten wollte, nämlich daß es nicht ganz einfach ist, ein siebzehnjähriges Mädchen für sich zu gewinnen, wenn man das Unglück hat, ihr Vater zu sein.
Was soll’s. Er bemüht sich, seinen Kindern innerhalb vernünftiger Grenzen den größtmöglichen Spielraum zu gewähren. Mit der mangelnden Anerkennung, die ihm dafür zuteil wird, hat er in den vier Jahren, seit er für die Erziehung allein verantwortlich ist, umzugehen gelernt. Solange er sich keine Sorgen macht (dieses Recht werden sie ihm hoffentlich zubilligen), redet er den Kindern nicht drein. Und wenn eines der Kinder unbedingt seine Meinung hören will, versucht er, diese möglichst neutral zu formulieren, damit er sich nicht vertut. Er beklagt sich selten über den verheerenden Saustall in den Zimmern. Die ausufernde Telefonrechnung macht er nur zum Thema mit Hinweis auf die Nachbarn, die am selben Anschluß hängen und sich über die ständig belegte Leitung beschweren. Vor gut zwei Stunden, als Philipp und er zur Abfahrt bereit waren, nahm er es hin, daß die Waschmaschine noch eine Dreiviertelstunde brauchte, bis sie durch war, mit T-Shirts von Sissi darin. Er sagte nicht, daß die letzte Schulwoche und selbst der Vormittag ausreichend Zeit geboten hätte, die T-Shirts rechtzeitig zu waschen, und er sagte nicht, daß es typisch sei, obwohl es typisch war. Er nimmt diese Dinge hin, manchmal mit einem Gefühl der Beklemmung. Aber dann redet er sich zu, daß Sissis Art auch ihre guten Seiten hat, zum Beispiel, wenn er selber später dran ist, als er versprochen hat, und Sissi es gar nicht bemerkt. Um die Zeit zu überbrücken, bolzten er und Philipp den Fußball gegen das Garagentor, mit wildem Scheppern, so daß Herr Andritsch an den Zaun trat und sagte, sie sollen zusehen, daß sie in den Urlaub kommen, aber hurtig. Endlich um drei, als die Freitagsglocken läuteten, eine Stunde nach dem verabredeten Termin, stopfte Sissi ihre nasse Wäsche in eine Nylontasche und die Tasche in den ohnehin randvollen Kofferraum. Peter behielt für sich, wie grindig er das fand, und er ließ es Sissi auch durchgehen, daß sie ihre Wagentür mit den Worten» Scheiß Urlaub!«zuzog.
Dann sind sie losgefahren, here we go, here we go, und Peter hat zur Unterhaltung ein Liedchen angestimmt, Jimmy Brown das war ein Seemann undsoweiter. Er hat hinterher wohlweislich eingestanden, daß Freddy Quinn kalter Kaffee ist gegen David Bowie, selbstverständlich. Aber besser Freddy Quinn als Schweigen im Walde (oder die Lieder, die man ihm in seiner Kindheit beigebracht hat).
— Stimmen wir überein, meine Damen und Herren?
Sie sind jetzt über den Paß, und die Straße läuft einen Hügelrücken hinab. Sie passieren mehrere Pensionen, Kurve links, Gerade, Kurve links, Kurve rechts, nach einer weiteren kurzen Geraden öffnet sich die Landschaft, und sie blicken auf die südlichen Voralpen.
Peter sagt:
— Ich verspreche euch vierzehn Tage schönes Wetter. Ich habe meinem Namenspatron einen Schnaps bezahlt, da wird er uns nicht im Stich lassen.
Philipp lacht behäbig und rutscht zur Mitte der Rückbank, weil er die Sonne auf seiner Seite hat. Die Strahlen brennen ihm auf Arm und Schenkel.
— Mach dich nicht so breit, sagt Sissi.
— Ich?
— Schau, daß du dein Bein auf deine Seite bekommst. Nimm deinen Fuß weg!
— Es ist mir zu heiß am Fenster.
— Du hast vor der Abfahrt genug Zeit gehabt, dir zu überlegen, von welcher Seite die Sonne kommen wird, wenn wir nach Süden fahren.
— Dann häng du nicht deine Haare zu mir herüber.
— Tu ich ja gar nicht.
— Und ob.
— Ach, halt dochs Maul.
— Blöde Kuh.
Philipp packt sich wieder in seine Ecke. Nach einiger Zeit lacht er, ein wenig hinterhältig, wie ein Gnom.
Sissi beklagt sich:
— Papa, das Schwein furzt, mir kommt gleich das Blut aus der Nase.
— Kann ich was dafür? fragt Philipp.
Sein zartes Bubengesicht mit den im Verhältnis zu großen, weil schon ausgewachsenen Zähnen färbt sich an den Wangen und auf der Stirn rot, hinauf bis zum Flaum am Haaransatz.
— Furzt du oder der liebe Gott? fragt Sissi.
— Aber ich kann nichts dafür, erwidert Philipp, und schon lacht er wieder sein leises, gnomenhaftes Lachen, so halb durch die Nase und halb mit dem Bauch. Augenblicke später starrt er glucksend zum Fenster raus gegen eine dichte Wand aus Bäumen und Gestrüpp.