Sie zuckt mit den Achseln und zieht die Brauen hoch, als wolle sie sagen, es sei nicht nötig, alles zu verstehen.
— Dein Bruder ist nicht so geizig mit Auskünften. Dem muß man nicht jedes Wort vom Mund abkaufen.
— Weil er nichts zu erzählen hat.
— Woher willst du das wissen? protestiert Philipp: Natürlich hab ich was zu erzählen.
— Hast du nicht.
— Hab ich doch.
— Lappalien. Einen großen Haufen Nichts.
— Stimmt doch überhaupt nicht.
— Lügen und Angebereien, die du dir aus deinen Abenteuerbüchern zusammenbaust.
— Das stimmt nicht. Ich hab grad soviel zu erzählen wie du.
— Und was? fragt Sissi: Schieß los, sagt sie: Sei kein Spielverderber, fordert sie ihn auf: Na, komm, schieß los, was hast du zu erzählen?
Kurz blickt Philipp zum Fenster raus. Tonlos liest er zwei Ortsnamen von einem Schild herunter:
— Peggau, Deutschfeistritz.
Dann nimmt er das Kirschenpaar herunter, das über seinem linken Ohr hängt, legt es sich in den Mund, zieht die Stengel ab und schiebt sie über den Scheibenrand in den vorbeistreichenden Fahrtwind.
— Na, komm, Philipp, erzähl uns was, sagt Peter.
Ein beleidigter Ausdruck liegt im Gesicht des Buben. Er öffnet den Mund, schließt ihn aber sofort wieder, ohne etwas gesagt zu haben.
— Ich bin schon gespannt, fügt Peter hinzu.
Sehnig und braungebrannt liegen seine Hände eng nebeneinander oben am Lenkrad. Beim Zementwerk in Peggau zieht er den Wagen dynamisch in eine scharfe Linkskurve. Philipp kippt zu Sissi hinüber. Sissi stößt Philipp mit der Handfläche gegen die Schulter, zurück in seine Ecke.
— Bleib auf deiner Seite.
— Was kann ich dafür?
— Dort hast du einen Haltegriff, benutz ihn.
Philipps rechte Hand geht nach oben zu dem kunststoffbezogenen Griff über dem Fenster, die freie Linke legt er sich auf den Bauch, bewegt sie dort ein bißchen hin und her und gähnt nach einiger Zeit. Dann dreht er den Kopf mißmutig zur Seite, eine Strähne auf seinem Scheitel richtet sich in einem Luftwirbel auf. Er betrachtet seinen wenig ausgebildeten rechten Oberarmmuskel, den er in kurzen Abständen anschwellen läßt. Über den Oberam hinweg sieht er auf die sich öffnende und wieder schließende Landschaft und hinter Peggau für kurze Zeit auf den sich langsam bewegenden lautlosen Fluß, ein Band aus blaugrauer Flüssigkeit.
Ein Spaziergänger am anderen Ufer wirft für seinen Hund einen Stock ins Wasser. Philipp folgt dem Hund mit dem Blick, dann ist der Wagen vorbei, in der nächsten Kurve.
Peter sagt:
— Philipp, ich würde mich über eine Geschichte von dir freuen.
Der Wagen setzt über einen der Straßenkämme, es geht leicht bergab. Peter schaltet sinnlos einen Gang tiefer und wieder rauf. Er späht die Straße hinunter, ehe er mit einem schnellen Blick über die Schulter seinen Sohn ins Visier nimmt. Woran Philipp in diesem Augenblick denkt? Peter könnte es nicht sagen. Still und in sich gekehrt lehnt der Bub seitlich an der Tür. Könnte auch sein, daß sich hinter Philipps Träumen konzentrierte Wachsamkeit verbirgt. Peter hört das Gummiband gegen Sissis linkes Handgelenk schnellen. Er kann regelrecht hören, daß es schmerzt. Er denkt: Gleich wird die Stichelei weitergehen. Ich sollte die beiden ein wenig beschäftigen.
Vorschlag an die Nachkommenschaft:
— Ihr könntet was singen. Na? wie wär’s? Zur Hebung der allgemeinen Moral. Was ist? ja? ja? na, so was! das freut mich … aber … aber … das lobe ich mir.
Der Bub wagt sich vor, nichts Besonderes, klar, aber immerhin: Wann wird’s mal wieder richtig Sommer, ein Sommer wie er früher einmal war. Es ist ein einfaches Lied über Sonnenbrände, die man sich im heimischen Freibad holen konnte, über Wasserrationierungen und die Hoffnung, daß es auch in Zukunft wieder Hitzewellen geben wird, mitsonnenscheinvonjunibisseptember. Kein Wort von Liebe, gebrochenen Herzen oder dem Wunsch nach Freiheit in einer gottlosen Ferne. Ein lustiges und einfaches Lied. Philipp singt es langsam und sanft (sanft wie der sommerliche Fluß mit seinem trübblauen Wasser), und obwohl Philipp den rachenkranken Akzent von Rudi Carrell nicht ohne Charme imitiert, klingt es mehr wie eine Moritat.
Als er zu Ende gesungen hat, sagt Sissi:
— Es ist ein schöner Sommer, ich weiß nicht, was du hast.
— Aber nicht wie früher.
— Wann war früher?
— Früher halt.
— Wann früher?
— Als wir mit Mama in Venedig waren.
Die Male, daß die Kinder Ingrid erwähnen, unvermittelte Sätze wie dieser, werden von Jahr zu Jahr weniger, und auch der Schmerz läßt nach, den diese Sätze aus einem stillen Gären wecken. Peter weiß noch, wie erschrocken es ihn anfangs machte, wenn eines der Kinder am Küchentisch sagte:
— Das erste Mal, daß wir Apfelfleckerln ohne Mama essen.
Dabei brachen die Kinder keineswegs immer in Tränen aus, sie sagten diese Sätze meist beiläufig, so dahin, wie soll man es ausdrücken, als bedauernde Hinweise darauf, wie sehr sich die Dinge verändert hatten, in einer Kettenreaktion, die unendlich viele Details erreichte. Die Kinder machten diese Bemerkungen, weil sie darin eine Möglichkeit erkannt hatten, an das Vorleben mit Ingrid anzuknüpfen, ex negativo: Wir tun es, und Mama tut es nicht mehr.
Ingrid. Dieser wunderbare, vom Tod so weit entfernte Mensch. Sie hatten gerade einen Urlaub in Venedig hinter sich, dort fanden sie ohne Schwierigkeiten zu Fuß auf die Piazza San Marco, weil sie als Markierung die von Millionen Händen glattpolierten Straßenecken und Brückengeländer verwendet hatten. Ingrids Idee.
Dann ein Sonntag. Es ist der letzte Tag, bevor für Ingrid die Arbeit am Krankenhaus wieder losgeht. Sie packt die Badesachen und die Kinder in ihren Wagen. Eine jüngere Arztkollegin, deren Mann ein Motorboot besitzt, hat zum Schwimmen eingeladen. Ingrid trägt den roten Bikini, den Peter ihr in Italien auf einem Straßenmarkt gekauft hat, sie lacht und genießt das Licht, das träge Fließen der Donau, das Leben. Noch immer ist sie vom Tod weit, weit entfernt, und doch nur, wie jeder, durch einen Zufall von ihm getrennt. Sie sagt, wie wunderbar dieser Tag sei, sie springt von der Bugspitze, taucht unter, es spritzt über ihren Füßen, das Wasser schließt sich, und Ingrid kommt nicht mehr hoch, eine Minute, zwei Minuten, so schnell geht das, so leicht stirbt sich’s, keine Bewegung, kein Laut entsteigt dem Wasser, du sollst die Donau nicht duzen, auch in schönen Wassern kann man ertrinken. Wie? Was los ist? Ihr Armband hat sich an einem halb in den Kiesgrund eingeschwemmten Fahrrad verhakt, sie zerrt, statt aus dem Armband zu schlüpfen, wie oft hat sie den Reifen achtlos abgestreift vor dem Schlafengehen, wie oft, am Bettrand sitzend, dabei redend, nicht hinsehend, sie hat Hämatome am Armgelenk, die Fingernägel der anderen Hand brechen, die Muskelfasern in ihrer Schulter reißen, sie zerrt, der Armreifen verbiegt sich, aber er hält, ein ums andere Mal. Und Ingrid: Schluckt Donauwasser, sie bekommt das Wasser in die Lunge, sie hustet, unter Wasser kann man nicht gut husten, sie ist Ärztin, sie weiß, das macht es nicht besser, unter Wasser kann man nicht gut husten, sie weiß, daß man sterben muß, wenn man Wasser in der Lunge hat, sie will nicht sterben, sie will nicht, sie hängt am, sie zerrt, sie schlägt, sie hängt, wenn der Armreifen jetzt bräche, ja, sie würde bestimmt, laß los, nach oben, wenn der Armreifen jetzt, sie würde es bestimmt noch, sie hängt am, nein, doch, laß los, aber nein, sie würde es bestimmt noch schaffen, sie hängt am Leben, laß los.
Jetzt die erschreckende Wirklichkeit: Ist nicht nur der ruhig nach der Strömung sich ausrichtende Körper und das zur Seite treibende offene Haar, ist nicht nur die letzte Luftblase, die den Weg aus Ingrids Lunge findet und zur Oberfläche steigt, um sich dort einen Moment als glitzernde Kuppel auf dem ruhig dahinziehenden Wasser aufzurichten und zu vergehen. Es ist auch das, was sich an Deck des Bootes und im Wasser ringsum abspielt, wo das Leben (wovon die Schlagerdichter singen) weitergeht. Der Mann der Kollegin taucht nach Ingrid, bis er ebenfalls Wasser in den falschen Hals bekommt. Seine Frau feuert ab, was der Kasten mit den Rettungsmitteln hergibt, Signalpistole, Leuchtmunition. Die Frau setzt eine Boje, sie wirft den Rettungsring ins Wasser, der davontreibt, donauabwärts. Sissi ruft nach ihrer Mutter, wohl zwanzigmal, und die Stimme verhallt, Mama, Mama, vom Flußwind verweht, das Mädchen, Sissi, müßte den Mund unter Wasser halten, nein, tut sie nicht, dort kauert sie, sie ist dreizehn, auf einer der schmalen Plastikbänke, Sissi, mit dem Kopf zwischen den Knien, den Händen über dem Kopf, sie weint. Und Philipp: Er schaut übers Wasser, er wartet, daß seine Mutter hochkommt, daß seine Mutter ihnen lachend eine lange Nase macht, daß sie ihnen das Schilfrohr zeigt, das sie zum Atmen verwendet hat, wie im Western, John Wayne, Rio Lobo, Philipp hat den Film gemeinsam mit seinem Vater gesehen, er zählt bis hundert, Mama, du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt, das ist schon gar nicht mehr lustig, dann fängt er wieder von vorne an … siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig —.