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Es heißt, wenn man den Kopf in die Donau steckt, die Donau, die jeden Tag eine andere ist, dann höre man ein singendes Geräusch, das angeblich von den Kieseln auf dem Stromgrund kommt, die vom Wasser langsam vorwärts und übereinander geschoben werden.

Durch einen unglaublichen Zufall, einen absolut dummen Zufall.

Und Peter wünschte, daß Ingrid zurückkäme, um zu sehen, wie er sich hält, denn er hält sich ganz gut, findet er, ja, seit die Anfangszeit überstanden ist, damals, als er wie mit einer Bleiweste lebte und den Kindern vor lauter Zeitdruck die Hausaufgaben diktierte, so daß Sissi irgendwann sagte:

— Papa, ich glaube, dir geht deine Schulzeit ab.

Und er wünschte, daß Ingrid zurückkäme, um ihm beizupflichten, wie gut sie es jetzt haben könnten, denn seither ist vieles geschehen und anders geworden, die Zeit hat so manches geregelt.

Und er wünschte, daß sie wieder eine Familie wären und die Welt so schön wie in einem Album, daß die Bäume im Garten blühten, und die Sonnenuntergänge eine einzige Pracht wären und daß sie gemeinsam gute Bücher läsen und die Kinder stolz wären und gerne nach Hause kämen.

Und er wünschte, daß Ingrid neben ihm am Beifahrersitz säße, wo jetzt der Fotoapparat und die Schmalfilmkamera liegen, und daß sie zwischendurch ihre Hand auf seinen Oberschenkel legte und mit den Fingern leichten Druck ausübte.

Und er wünschte, daß sie glücklich wären bis ans Lebensende, er bildet sich ein oder ist überzeugt, daß sie glücklich sein könnten, er denkt das sehr oft, düster, schmerzhaft, undeutlich, ja, denken kann man vieles, es kostet nichts.

Es kostet nichts.

Denn es ist nicht so, nein, daß er nicht wüßte, ja, um es leichter zu haben, hat er seine Erinnerung ein wenig korrigiert, er weiß aber doch, daß seine Ehe nicht das war, was sie sich vorgestellt hatten, und daß die Zutaten für ein haltbares Glück nicht gereicht hatten und daß wenigstens Sissi alt genug war, die Misere mitzubekommen. Und er weiß auch, daß die Jahre vor Ingrids Tod die am wenigsten erfolgreichen Jahre seines Lebens waren, das will was heißen bei einem, der auch davor und danach meistens auf seiten der Verlierer gestanden ist, bei dem sich die Niederlagen eingelagert haben wie Arteriosklerose.

Sooft er daran denkt, ist das alles noch, als wär es gestern gewesen.

Als er am Vortag von Ingrids Tod daheim anrief, schickte sie eines der Kinder ans Telefon.

Sissi: Es geht mir gut. Bei uns nieselt es.

Er: Kann ich mit Mama sprechen.

Sissi: Ja.

Er: Ich habe gehört, es nieselt bei euch.

Ingrid: Ja, da muß ich wenigstens nicht Garten gießen.

Er: Ist das Gras schon wieder gewachsen?

Ingrid: Ja, natürlich.

Er: Hier in München hat es nur gestern geregnet, jetzt ist es wunderschön. Gibt es zu Hause etwas Besonderes?

Ingrid: Nein, denke, es geht uns gut.

Funkstille.

Er: Dann gib ihnen ein Bussi von mir.

Ingrid: Ja.

Er: Und dir auch ein Bussi.

Ingrid: Danke, bis dann.

So stand die Sache. Recht traurig. Traurig. Vor allem in den letzten Jahren hatten sie viel gestritten, meistens war der Ausgangspunkt eine Kleinigkeit, so nichtswürdige Kleinigkeiten, zum Beispieclass="underline" Ihr letztes Geburtstagsgeschenk an ihn, Spoerl, Mit dem Auto auf Du. Deutlich vor Augen steht Peter auch Philipps Erstkommunion. Das war seltsam. Wenn er nicht wüßte, daß es so war, würde er nicht glauben, daß er seinerzeit Sprüche klopfte wie:

— Mein Sohn trägt kein Mascherl.

Und Ingrid sagte:

— Wenn dir die Erstkommunion auf die Nerven geht, ist das deine Sache, und jetzt hältst du dich besser zurück.

Dann sagte sie noch:

— Du erträgst es offenbar nicht, wenn nicht du im Mittelpunkt stehst, sondern wer anderer.

Da meinte er:

— Jetzt reicht es mir, Schluß mit dem Zeug, ich höre mir den Blödsinn nicht länger an.

Ingrid legte eins drauf, indem sie behauptete:

— Deine Reaktion spricht dafür, daß ich jetzt etwas Wahres gesagt habe und du das nicht erträgst.

Wenn er sich diese Momente ins Bewußtsein ruft (und als nächstes fallen ihm Ingrids Eltern ein, die verdammten Alten), überkommt ihn eine abscheuliche Stimmung, da fühlt er ein nagendes Gefühl im Magen, und er hätte am liebsten, daß dem Auto Flügel wüchsen, so unangenehm, so bedrückend ist ihm, was er nicht ungeschehen machen kann. Alle paar Tage (alle paar Stunden?) ist das, da hat es ihn, da muß er dann zusehen, wie er sich ablenkt (oder abreagiert oder betäubt). Diesmal legt er sich mächtig ins Zeug, die Kinder zu weiterem Singen zu animieren, na kommt, los, ihr Schlafmützen, avanti, Griechischer Wein, By the Rivers of Babylon, Fiesta Mexicana. Das hilft. Und als Sissi, der die Lieder davor zu wenig engagiert waren (Da ist mir sogar Streiten noch lieber), als sie mit ihrem vom Kirschenessen blauroten Mund und ihrer schönen Altstimme ebenfalls ein Lied beisteuert, na, wie darf man das verstehen? daß jetzt die Ferien beginnen? Blowing in the Wind, stimmt Peter beim Refrain ein mit seinem ratternden und zittrigen Baß, gerührt wie zu Weihnachten bei Stille Nacht, einen schmerzhaften Kloß im Hals, weil es ihm einen Moment lang vorkommt, als seien sie, ja was? ja was? dieser Gedanke kommt ihm nur selten vertraut vor: eine Familie.

Er weiß, klar, er weiß es natürlich nur zu gut, das wird nicht ewig anhalten, vermutlich nicht einmal sehr lange. Sowie sie aus dem Auto gestiegen sind, rennt wieder jeder in seinem eigenen Tempo.

In Graz hinter dem Hauptbahnhof verläßt Peter die Durchfahrung. Er hält sich nicht Richtung Knoten Süd, wo ein neues Stück Autobahn ansetzt, sondern manövriert den Wagen südöstlich Richtung Stadtrand, wo er — kleine Fleißaufgabe — eine Kreuzung begutachten will, auf der sich Anfang der Woche ein tödlicher Unfall ereignet hat. Die Zeitungen gaben ziemlich verworrene Darstellungen.

— Muß das sein? fragen die Kinder unisono.

— Es wird nicht lange dauern.

Damit sie ihm den Abstecher nicht allzu übelnehmen, lenkt er den Wagen bei der Justizanstalt Karlau vorbei.

— Da bekommt ihr etwas zu sehen. Die Gebäude da vorne, die aussehen wie ein Kloster, die Außenmauer mit oben dem Stacheldraht. Das ist das Zuchthaus.

— Faszinierend, sagt Philipp.

Sissi wiederholt bissig:

— Faszinierend — . Dann doziert sie:

— Es gibt drum so viele Gefängnisfilme, weil es so viele Leute faszinierend finden, daß man andere Leute wegsperrt.