Er würgt den letzten Bissen seiner zweiten Salami-Semmel hinunter. Dann ein dritter Anlauf, apropos, daß den Fleischhauern, als während des Kriegs Lebensmittel nur auf Bezugsschein zu erhalten waren, von heute auf morgen die wundersame Fähigkeit zuflog, Fleisch auf wenige Gramm genau abzuschneiden, und daß ihnen diese Fähigkeit ebenso plötzlich wieder abhanden kam, sowie das Kartenwesen abgeschafft war. Darf’s ein bisserl mehr sein?
— Ein erstaunliches Phänomen, nicht?
Er erntet eine der üblichen spitzen Bemerkungen von Sissi, die sich diesmal auf Ernesto Che Guevara beruft:
— Der Kapitalismus wird irgendwann an seinen Widersprüchen ersticken.
Peter nimmt es zur Kenntnis. Sei’s drum. Am Ende ertappt er sich dabei, daß er — zum wievielten Mal? — versucht, anhand der in den Fenstern sich rasch vorbeispulenden Panoramabilder heimisches Kulturgut zu vermitteln, als sich ihnen jenseits der hinter Bäumen verborgenen Mur ein Blick auf den Turm von Schloß Weißenegg bietet. Ein plump getarntes Selbstgespräch, bei dem es, wie bei den Gesprächen mit der toten Ingrid, vor allem darum geht, sich selbst zu umarmen.
Hinter Wildon erwacht dann auch Sissis Redseligkeit, entweder befallen von Langeweile oder von einem Mitteilungsbedürfnis, das ähnlich unbeholfen ist wie das ihres Vaters. Nachdem sie ihren Bruder angestupft hat, sagt sie:
— Erklär mir noch mal, warum du Friseur werden willst.
Philipp schaut von seinem Asterix-Heft auf und sagt:
— Ich will doch gar nicht Friseur werden.
— Aber Friseur ist doch ein schöner Beruf.
— Laß mich in Ruhe, ich will nicht Friseur werden.
— Aber du sagst doch sonst immer, daß du Friseur werden willst.
— Ich habe noch nie gesagt, daß ich Friseur werden will.
— Das wäre aber genau der richtige Beruf für dich.
Philipp versteckt sich hinter dem Asterix-Heft, so gut er kann. Als Sissi nicht lockerläßt, sagt er:
— Laß mich in Ruhe mit dem saudummen Zeug.
— Warum saudummes Zeug? Du drehst den Frauen Dauerwellen und kochst ihnen einen guten Kaffee, während sie unter der Trockenhaube sitzen.
— Papa, sag Sissi, daß ich nicht Friseur werden will.
— Sissi, laß deinen sonderbaren Humor woanders aus.
— Ich interessiere mich dafür, was er später werden will, erwidert Sissi, ganz Schweinchen Schlau. Und wieder zu Philipp gewandt: Wenn du nicht Friseur werden willst, was willst du dann werden?
Philipp schaut zum Fenster raus auf die Trasse der im Bau befindlichen Autobahn südlich von Lebring, auf einen Laster, der sich ihnen nähert in Richtung der neuen Autobahnbrücke, die der Manta im nächsten Moment unterquert.
— Willst du Asphaltarbeiter werden? fragt Sissi: Dann hättest du Muskeln und ganzjährig eine gute Farbe und wärst große Klasse. Das gefällt den Mädchen. Weißt du eigentlich, daß du ein ziemlich hübscher Bub bist.
Philipp verzieht das Gesicht. Die Lektionen der letzten Zeit raten ihm, Komplimente von Sissi zu ignorieren. Mit Lob fängt man Narren.
Sie sagt:
— Du bist hübsch, aber ein bißchen klein, und leider befürchte ich, daß du nicht mehr wachsen wirst. Du wirst so klein bleiben, wie du bist.
— Das stimmt überhaupt nicht.
— Man nennt das Wachs-tums-hor-mon-mangel. Das läßt sich bei dir nicht mehr beheben, dafür bist du schon zu alt, weil du bald diesen Flaum auf der Oberlippe bekommst. Aber sei nicht traurig, Schönheit ist nicht alles.
— Jetzt sei doch nicht so gemein zu ihm, sagt Peter.
Er reibt sich die Wangen. Er muß daran denken, wie sehr sich Sissi in den letzten Jahren um Philipp gesorgt hat und wie oft sie deshalb eingespannt war. Peter hat immer den Hut vor ihr gezogen und ihr deshalb auch manches nachgesehen. Jetzt hängt er der Frage nach, ob Sissi ihren kleinen Bruder — seit wann geht das eigentlich so? — , ob sie ihn deshalb in letzter Zeit härter anpackt, weil Philipp allmählich selbständig wird.
— Ich hab doch gesagt, daß er ein hübscher Bub ist.
Philipp, der jetzt in Wut gerät, platzt heraus:
— Papa, die dumme Kuh hat nur schlechte Laune, weil sie sich auf dem Schulfest verliebt hat.
Noch ehe Peter Luft holen kann, um Philipp wegen der dummen Kuh zu bitten, sich einer netteren Ausdrucksweise zu bedienen, faucht Sissi:
— Bist du still!
— Papa, er heißt Valentin! Er —.
Aus dem angefangenen Satz wird nichts. Sissi stürzt sich auf ihren Bruder, nimmt ihn in den Schwitzkasten und hält ihm mit der Hand den Mund zu. Philipp redet weiter, doch da er die meisten Laute nicht mehr bilden kann und das wenige, was er an dumpfem Gebrabbel herausbringt, von Sissis Drohungen übertönt wird, ist nichts mehr zu verstehen.
— Gebt Ruhe da hinten, es reicht. Hört ihr? Ich hab gesagt, es reicht. Ihr sollt aufhören.
Da die Kinder nicht reagieren, lenkt Peter den Wagen in die Nische einer Bushaltestelle und läßt die Kinder balgen, bis ihr Zorn von selbst erlahmt. Zum Ausklang bedenken die Kinder einander mit den üblichen banalen Schimpfwörtern (Ausnahme: Arsch-mit-Ohren-Friseur). Dann setzen sie sich stocksteif in ihre Ecken und starren geradeaus.
Peter sagt, fast ohne die Stimme zu heben:
— Sissi, du brauchst deinen Grant nicht an Philipp auslassen.
Sie läßt ihren Vater ein wenig warten.
— Das geht mir alles so auf die Nerven. Ich begreife nicht, warum ich mit euch in den Urlaub fahren muß.
— Mit einem alten Nazi und einem Friseuranwärter. Ist es das, was du sagen willst?
Sie schluckt, sie muß es sich verbeißen, daß sie gleich in Tränen ausbricht. Mit Mühe würgt sie ihre Scham hinunter, die wenigen Tränen, die ihr dennoch kommen, blinzelt sie rasch weg.
— Es war ja nur geblödelt.
— Wo wir grad beim Blödeln sind. Eins möchte ich doch sagen: Dein Herr Che Guevara hatte nicht alle Tassen im Schrank. Die Aufgabe des Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen. Das ist genau das richtige fürs Poesiealbum. Aber wenn man mit fünfzehn Leuten in den bolivianischen Dschungel geht und glaubt, auf diese Weise die Regierung stürzen zu können. Also bitte! Alles, was recht ist! Im Dschungel waren nur Schlangen. Und dann mit der Maschinenpistole hysterisch draufhalten, im Namen des Volkes und für das Elend der Massen. Da frage ich mich, ob der Herr Doktor und seine Kombattanten ihre Sinne noch beieinander hatten.
Sissi blickt ihn wider Erwarten an, die mageren Arme verschränkt. Ihr zu kurzes T-Shirt ist hochgerutscht und gibt ein Stück des nackten Bauches frei. Mit einem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit sagt sie:
— Das verstehst du eben nicht, dazu bist du zu alt.
Dabei ist eine solche Traurigkeit in ihrer Stimme, daß Peter jedes weitere Wort vergeht.
Er seufzt einmal tief, das hilft, Spannung abzubauen. Er fühlt sich ausgelaugt, er ist es auch.
— Morgen sind wir am Meer, da schaut die Welt ganz anders aus.
Er startet den Motor, kuppelt und sagt:
— Dann können wir ja wieder.
Here we go … Here we go. Und so fahren sie schweigend, obwohl alle nicht aufs Maul gefallen, also desto schlimmer, unter der hohen Wölbung des Himmels mit der Sonne schon nicht mehr ganz so hoch oben, mit den Schatten schon nicht mehr ganz so hart, begleitet vom Hunger der Vögel, die schwarze Querlinien in das Blau ritzen, durch windüberpfiffene Dörfer, zwischen Sonnenblumen, die in staubigen Gärten stieren, an Leibnitz vorbei, über die Mur und immer geradeaus, der Brückenwirt, bevor die Straße erneut über die Mur setzt, zwanzig Schilling für den, der mir sagt, wie oft wir die Mur heute queren, falsch, mein Sohn, da vorne das siebente Mal, und langsam, langsam, da haben wir die Bescherung. Denn: Denn unmittelbar vor dem nördlichen Brückenkopf stößt der Wagen ans Ende des Staus, der sich nach vorne zum Grenzübergang streckt, Spielfeld, auch Spielfeld (gemeinsam mit Straß) eine der 88 (später 92) Stationen in Peters — ehemaligem? — Spiel, Wer kennt Österreich? an dem jetzt andere verdienen, eine Station wie heute schon? na? na? wer kann sie mir aufzählen? Wien und? Noch mal zwanzig Schilling. Doch selbst Peter hat seine liebe Not, die Stationen zusammenzubringen, er denkt nach, mit dem Geruch des Meidlinger Magazins unter der Schädeldecke: Holzstaub, verschütteter Leim, feuchtes Papier und Asche, Asche, als er und die schwangere Ingrid im Herbst 1960 alles ausräumten und die restlichen Kartons und Spielfiguren und den ganzen Müll (den Bärenpelz) am Vorplatz verbrannten. Soll ich es euch sagen? Seid ihr alle da? Wien, Leobersdorf, Wiener Neustadt, Semmering, Bruck, Graz, Spielfeld/Straß.