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— Und was ist das? fragt er mit vorsichtiger Befangenheit, nachdem er die Kamera gestoppt hat.

Das sind T-Shirts von Sissi. Warum fragen? Sie liegen zum Trocknen auf der Motorhaube und am Deckel des Kofferraums. Über dem Rückspiegel der Fahrerseite hängt ein Lumpen, den Sissi unter dem Gepäck hervorgegraben und mit dessen Hilfe sie den Lack notdürftig von Schmutz befreit hat. Peter filmt auch die T-Shirts. Er geht sehr nahe ran. Später einmal, wenn er zu Hause im Keller eine Vorführung gibt, werden die kräftigen Batikfarben blaß sein und etwas zusätzlich Körniges und Weiches haben, wie die Luft in der Früh, wie etwas, das seine Bedeutung erst in der Zukunft zugewiesen bekommt, wie etwas, das sich erst in der Zukunft begibt.

— Ich gehe bis zur Grenze zu Fuß, sagt Sissi.

Und weg ist sie.

Peter blickt ihr hinterher mit einem Gefühl des schleichenden Verlusts. Wie sie stolpert im Schotter des Straßenbanketts, ein unglückliches Mädchen in Schuhen, die gut aussehen, in denen sie aber fürchterlich schwitzen muß. Ihr Haar. Ihr Rücken. Ihr Hintern. Und daß sie sich nicht umdreht. Das beklemmt ihn, obwohl er weiß, es ist das, was sie jetzt braucht, anderthalb Stunden, in denen sie ihrer Familie entrinnt und auf sich selbst gestellt ist, ein Gefühl (die konkrete Erfahrung der Freiheit?), das ihre Sehnsucht mildert und sie der Antwort auf die Frage näherbringt, die sich Dschingis-Khan inmitten der Mongolenzüge gestellt hat: Wo nur bin ich in diesem Strom?

— Sie ist nicht gut drauf, sagt Philipp.

— Das scheint mir auch so, sagt Peter.

Langsam vollzieht sich der Ablauf der Zeit. Die Sonne verglüht, die orangefarbene Scheibe sackt ab, tiefer und tiefer, verwaschen im Dunst, streift einen bewaldeten Hügel hinter dem Schloß von Spielfeld, gleich darauf, rötlicher, nachdem Peter den Wagen ein Stück nach vorne gesetzt hat, steht sie wieder frei am Himmel, in einer westlichen Landschaftskerbe. Die Unebenheiten in der Ferne glätten sich ein. Ein leichter Wind kommt auf. Dann ein Sonnenuntergang wie ein Gemetzel. Die bewaldeten Hügel scheinen der Sonne hinterher unter die glitschige Horizontlinie zu stürzen. Und der Himmel reißt sich drachengleich los und löst sich in der Höhe in nichts auf.

Freitag, 8. Juni 2001

Philipp sitzt auf der Vortreppe, streichelt eine aus der Nachbarschaft zugelaufene Katze, mit der er sich angefreundet hat, reibt mit dem Zeigefinger der Rechten an ihren Wangenknochen und kratzt sich selbst den Bauch. Er sieht den Autos, die vorne die Einfahrt passieren, beim Fahren zu, den Frauen mit Kind, die nicht einmal den Kopf nach ihm drehen, obwohl der Anblick, der sich ihnen bieten würde, nicht schlechter wäre als andere Anblicke. Aber nein. Die Frauen und Kinder interessieren sich nicht für ihn. Kein Hahn kräht. Kein Hund bellt. Die Tauben gurren. Der Kaffee wird kalt. Das Erkalten des Kaffees und das langsame Verbrennen der Sonne sind in etwa dasselbe. Aber er schwadroniert ja nur und verduselt und verschreibt seine Notizbücher mit nichts als Andeutungen und Widersprüchen.

Selbst seine Geschicklichkeit im Fliegenfangen macht ihn nicht mehr froh. Er gibt die Fliegen der Katze zu fressen.

— Was soll ich denn jetzt deiner Meinung nach tun? fragt er die Katze. Sie miaut gnädig. Und mit einmal sieht auch Philipp sich an einem Punkt angelangt, an dem er nicht mehr bestreiten will, daß er etwas falsch macht. Er weiß nicht was, es geht über seinen Horizont, aber zweifellos macht er Fehler.

Auch Nichtstun kann die Dinge zum Eskalieren bringen.

Prompt, als sei sie es gewesen, die ihm diesen Gedanken eingegeben hat, biegt Johanna um die Ecke. Sie fährt mit dem Fahrrad bis vor seine Füße, und derweil er sich ärgert, daß er den Kopfverband vor zwei Stunden abgenommen und anschließend geduscht hat, sagt sie, sie habe ihm etwas zum Lesen mitgebracht. Sie greift in den Korb an ihrer Lenkstange und überreicht ihm mit strahlendem Gesicht einen Quartband, der außen grün marmoriert ist, keinerlei Prägungen aufweist und mindestens drei Kilo wiegt. Philipp öffnet den Band behutsam und liest laut:

— Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Mathemathisch-naturwissenschaftliche Classe. Dreiundsiebzigster Band. Jubelband zur Feier des fünfzigjährigen Bestandes der k.u.k. Centralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus. Wien 1901.

Während Johanna stolz darauf hinweist, daß das Buch hundert Jahre alt ist, fragt sich Philipp, ob er in Zukunft über die Liebe nachdenken soll, wenn er über das Wetter nachdenkt (wer will es verstehen?). Er spricht Johanna darauf an. Sie winkt ab. Aber wenig später sagt sie, doch, ja, sie glaube schon, daß es sie erregen würde, wenn er ihr, während sie miteinander schlafen, den Artikel über den Wassergehalt von Wolken vorlesen würde. Sie nickt mehrmals mit zusammengepreßten, leicht vorgestülpten Lippen. Dann, nach einer Pause, nickt sie nochmals und lacht.

Wie sie lacht!

— Also: Über den Wassergehalt der Wolken, Absatz, von Doktor Victor Conrad, Absatz, Klammer, aus dem Physikalisch-chemischen Institute der Wiener Universität, Klammer zu, Absatz. Mit fünf Textfiguren, Absatz, Strich, Absatz, Klammer, vorgelegt in der Sitzung am siebzehnten Mai neunzehnhunderteins, Klammer zu, Absatz, Strich, Absatz. Die erste Untersuchung über den Wassergehalt von Wolken und Nebeln hat Schlagintweit im Jahre achtzehnhunderteinundfünfzig angestellt. Er hatte auf der Vincenthütte, Klammer, dreitausendeinhundertzweiundfünfzig Meter, Klammer zu, die an den Hängen des Monte Rosa liegt, längeren Aufenthalt genommen, um den Kohlensäuregehalt der Luft in diesen Höhenschichten zu bestimmen —.

Kichern Johannas, die sich auf dem Weg zu Philipps Zimmer T-Shirt und BH auszieht.

— Da Schlagintweit hiebei –

Neuerliches Kichern Johannas.

— die zu untersuchende Luft durch Kohlensäure absorbierendes Material leitete und den CO2-Gehalt aus der Gewichtzunahme der absorbierenden Substanzen erschloß, mag ihm der Gedanke gekommen sein, Nebelluft durch Wasser absorbierende Substanz, Klammer, Chlorcalcium, Klammer zu, zu leiten und wieder aus der Gewichtzunahme den Gesamtwassergehalt des aspirierten Luftquantums zu bestimmen, dann die in der Luft enthaltene Feuchtigkeit, Klammer, das gasförmige Wasser, Klammer zu, zu subtrahieren und so den Gehalt an flüssigem Wasser zu erhalten, das in Tröpfchenform in der Luft suspendiert ist. Auf diese Weise findet Schlagintweit im Cubikmeter Wolke cirka zwei Punkt neunundsiebzig Gramm flüssiges Wasser.

Philipp unterbricht den Vortrag und fragt die schon zur Gänze entkleidete und auf dem Rücken liegende Johanna, was sie meine, ob die Wolken mehr dem Regen oder mehr dem Himmel ähneln?

Ohne ihm eine Antwort zu geben, dreht sie sich herum, nimmt ihm das Buch aus der Hand und wirft es neben die Matratze. Es landet mit einem Knall auf dem Dielenboden.

Philipp protestiert:

— Johanna! sagt er: Der Artikel über den Wassergehalt von Wolken soll dich erregen, während wir miteinander schlafen, nicht davor.

Aber sie hört ihm bereits nicht mehr zu. Er überlegt, was er tun soll, vielleicht die Frage wiederholen, ob sie glaube, daß die Wolken dem Himmel näher sind oder dem Regen, und wer dem Sommer verwandter, der Frühling oder der Herbst. Aber dann sagt er sich, daß das im Augenblick gleichgültig ist und ihn vielleicht nie wieder interessieren wird, ihn bedrücken ganz andere Fragen, und selbst die können warten, bis Johanna und er erschöpft nebeneinanderliegen.