Выбрать главу

Obwohl Steinwald das Thema ganz von sich aus angeschlagen hat, weckt es spürbare Scheu in ihm. Er schwitzt die Einzelheiten regelrecht aus, und zwar brockenweise. Philipp setzt den Ball vor Steinwalds Tor. Aber der Ball kommt mit der gegnerischen Farbe nach oben zu liegen.

— Deshalb die Dufttannenbäume, sagt Philipp.

Steinwald nickt, und nachdem er den Ball in Philipps Richtung gekickt hat, mit nicht mehr Glück als Philipp zuvor, erklärt er, weiterhin widerstrebend, daß er nicht über ausreichend Geld verfüge, den Wagen innen komplett zu erneuern. Bisher habe er lediglich die Vordersitze und Bodenbeläge ausgetauscht und die Türverkleidungen ersetzt. Er macht eine Pause. Philipp schießt den Ball knapp an Steinwalds Tor vorbei. Trotzdem reagiert Steinwalds Torwart nicht. Steinwald richtet sich auf. Der Wagen sei verläßlich, außerdem könne man mit offenen Fenstern fahren. Er macht seinen Abstoß direkt auf Philipps Tor. Philipp lenkt den Schuß zur Ecke ab. In der Erleichterung, noch nicht verloren zu haben, fragt er, wer der Tote gewesen sei. Er wisse es nicht, erwidert Steinwald. In dem Wagen seien persönliche Gegenstände zurückgeblieben, die ihn stutzig gemacht hätten. Aber sonst keine Ahnung.

— Schöne Geschichte, fügt Steinwald seufzend hinzu, läßt sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und bleibt dort sitzen. Anstalten, die ihm zustehende Ecke noch auszuführen, macht sein Flügelstürmer nicht.

Philipp kann nicht schlafen. Ihm brennen die Augen, und die Müdigkeit ist zwar da, aber nur in den Gliedern. Versehen mit einer Schachtel Zigaretten, der fast leeren Flasche Kirschrum und der halbvollen Flasche Mandarinenlikör, die mindestens zwanzig Jahre alt ist, aber erst von ihm angebrochen wurde, liegt er auf dem Flachdach der Garage, bläst große Rauchwolken in die kühle Nachtluft und wartet auf das Nordlicht. Nach einer ungewöhnlich starken Sonneneruption sollen in dieser Nacht große Felder elektrisch geladener Teilchen die Erdatmosphäre erreichen.

Philipp sieht sie gegen halb zwei, kleine, nervös zuckende Schleier und Bänder aus grünem, manchmal violettem Licht. Er nimmt drei, vier Schlucke vom Mandarinenlikör. Ausgerechnet Steinwald! Trauzeuge! In der Ukraine! denkt er. Das ist doch alles Irrsinn und Lüge, eine einzige infame Lüge, Schwindel, Betrug, Impertinenz und Makulatur. Es gibt sie nicht, die Inseln im Süden. Bestimmt nicht. Wetten. Ich will tot umfallen. Es hat sie nie gegeben. Es gibt nur schlechte Straßen, Moraste, Abgründe, heulende Wölfe und Diebe, die alles nehmen, selbst den Mond, den sie untereinander in Phasen teilen. Ich spucke dem Mond ins Gesicht und — eine allerletzte Anstrengung: Ich wische das Nordlicht mit der Hand vom Himmel.

Wir mögen die Ukraine nicht, sagen die jungen Füchse und legen sich schlafen.

Montag, 9. Oktober 1989

Als Alma am Vorabend die ersten vier Waben schleuderte, gab es einen dumpfen Knall. Sie schaltete die Schleuder vorsichtshalber ab, und hinterher war das Gerät nicht mehr in Gang zu bringen. Nach einer Weile betätigte sie den Schalter erneut, da lief die Schleuder mit einmal wieder an. Nach dem vierten Abschalten in den Leerlauf, wobei Alma achtgab, die Schleuder nicht mehr auf Aus zu schalten, weil dabei beim letzten Mal ein Funken geknistert hatte, funktionierte der Schalter wieder nicht. Daraufhin holte Alma Schraubenzieher und Isolierband und versuchte, den Fehler auf eigene Faust zu beheben. Mit einer nicht ganz einwandfreien Methode: Sie überbrückte den Schalter mit Bienendraht. Es krachte ganz schön. Sie baute, so gut sie es zusammenbrachte, alles wieder zurück und probierte es nochmals. Da schaltete der Schalter zu ihrer Überraschung auf der Aus-Stellung ein. Von da an berührte sie den Schalter nicht mehr und bediente das Gerät von der Steckdose aus. So ging es gut, bis sie mit der Arbeit fertig war. Auf den elektrischen Entdeckler verzichtete sie, sie machte es wie früher mit der Gabel. Es war auch nicht soviel zu entdeckeln wie beim letzten Mal.

Jetzt ist der Elektriker bei ihr, und es stellt sich heraus, daß der Schleuder nichts fehlt und daß Alma mit ihrer Bienendraht-Methode vom Vortag auch nichts kaputtgemacht hat. Zuerst war der Schalter defekt, hervorgerufen durch den Staub, der sich im Laufe der Jahre eingelagert hatte. Dann war Alma beim Montieren des Schalters ein Fehler unterlaufen, deshalb funktionierte der Schalter plötzlich verkehrt.

— Alles staubt ein, sagt der Elektriker sentenziös. Er bläst mit Druckluft über die offenliegenden Anschlüsse, sprüht aus einer Dose eine feine, schimmernde Gischt Kontaktöl darüber. Er montiert den Schalter zurück an seinen Platz. Hinterher schaut er sich die Waschmaschine an, die seit einer Woche gefährlich rattert. Der Bügel eines BHs hat sich in der Trommel verfangen. Der Elektriker holt den Bügel binnen Sekunden per Zangengriff heraus. Das hätte Alma auch selber machen können. Sie bezahlt die Reparaturen bar und bringt den Elektriker nach draußen. Anschließend kehrt sie in die Werkstatt zurück und reinigt die Schleuder, aus der über Nacht aller Honig abgeronnen ist. Sie füllt den letzten Rest in Gläser. Dann räumt sie die Werkstatt für den Winter auf. Unter anderem, was sie schon viel früher hätte tun sollen, entfernt sie die alten Beuten von ihrem angestammten Platz neben dem Schrank und stellt sie an die Wand, die zum Heizraum grenzt, damit bei der Tür zum Garten der Durchgang nicht mehr so beengt ist.

Als Alma sich das Ergebnis ansieht, befällt sie die Furcht, etwas Falsches getan zu haben. Ihr ist, als hätte sie einen Verrat an Richard begangen, weil sie gemeinsam mit ihm die Beuten neben den Schrank gestellt hat, und einen Verrat an Ingrid, weil die Beuten neben dem Schrank standen, als Ingrid während ihres letzten Besuchs bei der Bienenarbeit half. Alma schimpft sich ein verrücktes Huhn. Aber obwohl ihr der Verstand sagt, es ist viel besser so, du hättest viel früher drauf kommen sollen, empfindet sie eine leise Wehmut, und ein wenig spielt auch ein Anflug von schlechtem Gewissen herein, daß sie mit den Veränderungen nicht wartet, bis auch Richard tot ist.

Auf Anraten von Dr. Wenzel hat Alma Richard vor drei Jahren in ein Pflegeheim gegeben, im Sommer 1986, als die Gärten radioaktiv waren. Die damalige Entscheidung kam nicht unvorbereitet, es war schon länger klar, daß es irgendwann nicht mehr gehen wird. Trotzdem kann Alma diesen Schritt noch immer nicht ganz verwinden. Wieder und wieder sieht sie Richards große angstvolle Augen, und sie möchte seine Hand nehmen und ihm sagen, so, Schluß, du kommst mit nach Hause. Oft, speziell in letzter Zeit, wünscht sie sich diesen Moment herbei. Sie weiß selbst nicht, wie ihr geschieht, aber seit Richards Geist gänzlich zerrüttet ist (nicht dieses zermürbende Halb-halb von Sinn und Unsinn, das etwas Gespenstisches hatte), hängt sie wieder sehr an ihm. Anfangs hat sie ihn öfters tagweise mit nach Hause genommen, manchmal auf sein inständiges Bitten hin. Aber selbst zu Hause findet er sich nicht mehr zurecht, so stark hat er abgebaut. Es ist, als würde ein selbstvernichtender Stachanov, unterstützt von mehreren kräftigen Gehilfen, in Richards Gedankengängen den Geist wegschaffen, Tag für Tag, bis nichts mehr zu holen ist und nur mehr ein feuchter Wind durch die tauben Systeme dieser armen Psyche weht.

Weihnachten vergangenen Jahres wollte Alma, daß Richard die Feiertage in der vertrauten Umgebung verleben kann. Aber er war ganz abwesend, und die meiste Zeit glaubte er sich in einer Kapelle, vermutlich wegen der Kerzen. Er sang mehrmals unangekündigt Großer Gott wir loben dich, und als Alma ihn soweit hatte, daß er begriff, welche Bewandtnis es mit dem Weihnachtsbaum und den Geschenken hat (Richard, das ist für dich, schau, das sind Weihnachtsgeschenke für dich, Richard, Weihnachtsgeschenke, es ist Weihnachten), traten ihm Tränen in die Augen, weil echte Kerzen am Baum leuchteten und er fürchtete, daß das Haus abbrennt. Alma holte den Feuerlöscher aus dem Keller und stellte ihn Richard in den Schoß, das beruhigte ihn ein wenig. Er umarmte den Feuerlöscher, stimmte die erste Strophe von Oh Tannenbaum an. Aber mittendrin brach er ab und wünschte sich, dies möge sein letztes Weihnachten sein. Anschließend sagte er: