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— Komm, wir gehen weg von hier, das ist kein Ort für uns.

Kaum hatte Alma ihm gezeigt, wo er sich befindet, hier ist deine Küche, dein Wohnzimmer, das du gemeinsam mit mir eingerichtet hast, die hartnäckigen Möbel, hier ist dein Arbeitszimmer, dein Aktenschrank, das ist der Schreibtisch, an dem du deine Reden geschrieben hast. Kaum schien es, als habe er erfaßt, daß er die Zimmer des eigenen Hauses abgeht, sagte er wieder:

— Und wo werden wir schlafen? Sie werden jemand anderen ins Bett legen, und wir werden kein Bett haben. Schau, daß du mit diesen Leuten sprichst und einen Schein löst und wir hinausgehen können. Wir werden zu Fuß in den nächsten Ort marschieren, dort ein Zimmer beziehen und dann sehen, was sich für die Zukunft machen läßt.

Über beide Feiertage hinweg ließ die Sorge um einen Schlafplatz Richard nicht los. Ständig brütete er über Alternativen, wo er mit Alma hingehen könnte. Es war unmöglich, ihn von diesem Wahn für länger als eine Stunde abzubringen.

Und jetzt: Jetzt sieht es aus, als ob ausgerechnet ein Streit ums Bett dazu führt, daß ein nächstes Weihnachten für ihn tatsächlich nicht mehr stattfinden wird.

Donnerstag vor vier Tagen wurde Hofrat Dr. Sindelka, Richards Zimmernachbar im Pflegeheim, in Richards Bett angetroffen. Richard lag mit einem Oberschenkelbruch und mehreren Platzwunden am Fußboden davor. Was passiert war? Das läßt sich nur vermuten, da es keine Zeugen gibt und Richard, als man ihn fand, bereits wieder vergessen hatte, wie er in diese mißliche Situation geraten war. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat sich Dr. Sindelka, der ebenfalls ein hoffnungsloser Sklerotiker ist, im Zimmer geirrt und gedacht, sein Bett sei widerrechtlich von Richard okkupiert. Die beiden haben sich von Anfang an nicht vertragen, teils aus politischen Gründen, teils aus Eifersucht, wer sich in physisch besserer Verfassung befindet. Sindelka muß mit einem hölzernen Kleiderbügel auf Richard losgegangen sein, auf diese Weise gelang es ihm, Richard aus dem Bett zu werfen und es für sich in Beschlag zu nehmen. Richard wird seither in Meidling behandelt, wo man ihn umgehend operieren wollte. Doch bei den Vorbereitungen auf die Operation stellte sich eine ausgeprägte Anämie heraus — Ursache unbekannt —, weshalb die Operation auf unbestimmte Zeit verschoben werden mußte. Richard bekommt Blutkonserven und seit dem Vortag Sauerstoff, weil das Herz nicht mehr das kräftigste ist, wie Alma sich hat sagen lassen. Aufgrund der ganzen Strapazen und der schweren Verletzung hat Richard erstmals Wasser in der Lunge. Er nimmt fast keine Nahrung zu sich, und die meiste Zeit redet er mit der Deckenlampe und phantasiert über Dinge und Personen, die nur mehr der Vergangenheit angehören. Lediglich sein Wortschatz war, zumindest am Vortag, merklich besser als in der Zeit vor dem Unfall. Immerhin. Während Almas Besuch, als Richard von einer Krankenschwester eine Spritze zwecks Blutverdünnung verabreicht bekam, drohte er wie in alten Tagen mit dem Rechtsanwalt.

Er murmelte schwach, aber verständlich:

— Der Rechtsanwalt wird Unterlassung anmahnen. Für den Fall von Säumigkeit erfolgt binnen sechs Wochen —.

Dann eines dieser Phantasiewörter, mit denen Richard sich oft behilft. Es klang weder nach Anzeige noch nach Klage, etwas in dieser Richtung wird aber bestimmt gemeint gewesen sein.

— Bis in sechs Wochen haben wir das ausgestanden, Herr Doktor, beruhigte ihn die Krankenschwester.

Und Richard beinah gütig:

— Das will ich allen Mitgliedern des Hohen Hauses empfehlen.

Was bitte spielt es da noch für eine Rolle, wo in der Werkstatt die alten Beuten stehen?

Keine. Es spielt keine Rolle. Ja, ich verstehe. Von welcher Seite man es auch betrachtet, es macht keinen Unterschied. Es wäre nur, um alles so zu erhalten, wie es war, als es noch eine Familie gab. Es wäre nur, um sich einen kleinen Ersatzaltar zu bauen gegen die Bürde, im Haus völlig frei schalten und walten zu können, und um sich selbst eine kleine Beschränkung aufzuerlegen, in eigener Sache, nicht in Sachen Ingrids oder Richards. Ingrid (sie vor allem) würde sich über die Skrupel ihrer Mutter bestimmt amüsieren.

Für ihren Seelenfrieden möchte Alma die Umstellung trotzdem rückgängig machen, würde es auch tun, wenn sie sich der körperlichen Anstrengung, die mit dem Zurücktragen verbunden wäre, noch gewachsen fühlte. Fühlt sie sich aber nicht. Deshalb vertagt sie das Projekt auf später. Sie schlüpft in die schiefgelaufenen Gartenschuhe und geht nach draußen, um in aller Gemächlichkeit das Bienenhaus auszukehren, ihre emotionale Aufwärmstube. Vor einem halben Jahrhundert, als Richard das Bienenhaus im Herbst nach dem Anschluß einem ins Exil gehenden Nachbarn abkaufte und als Ganzes über die Mauer hieven ließ, hätte Alma niemals vermutet, daß die Art, wie sie sich damals fühlte, bei der Arbeit mit den Bienen erhalten bleiben würde, egal ob während des Krieges oder nach dem Tod der Kinder oder jetzt, da Richard immer weniger wird.

Richard liegt auf Klasse, in einem Zweibettzimmer, an dessen Tür Alma leise klopft, ehe sie die Klinke nach unten drückt. Der kleine Raum wirkt größer als am Vortag, weil der Platz für das zweite Bett leer ist. Richard liegt ausgestreckt in seinem Bett wie die Maus in der Falle. Die Decke liegt eng an seinem Körper, die Arme oben drauf. Im rechten Handrücken zwischen den knotigen Sehnen steckt eine Kanüle, über die Richard Blut erhält. Sein Kopf liegt wie zur Präsentation in der Mitte des Kissens. Zwei Schläuche sind in die Nase gestoppelt, die Kinnladen sind hart und die dünnen Lippen wie zusammengelötet. Die Augen hingegen hat Richard weit geöffnet. Ohne auf Almas Begrüßung zu reagieren, schaut er mit bestürzter Miene an die Decke, als sähe er dort Dinge, zu denen Alma keinen Zugang hat. Woran er in diesem Augenblick denkt, in welcher Welt er ist. Alma würde es gerne wissen.

— Ich bin’s, pünktlich wie eine Engländerin.

Aber Richard scheint sie wieder nicht zu erkennen, nicht einmal an der Stimme.

— Ich, Alma. Willst du mich nicht ansehen?

Sie zieht ihre Jacke aus, hängt sie an einen der Haken innen an der Tür. Sie legt das mitgebrachte Obst auf den kleinen Tisch unter dem Fenster und zieht einen Stuhl zu Richards Bett. Ehe sie sich setzt, beugt sie sich über ihren Mann und gibt ihm einen Kuß auf die gelblich blasse Stirn, dort, wo diese nicht von Sindelkas Schlägen mitgenommen ist. Richards Haut fühlt sich heiß an. In den Augen hat er geplatzte Adern. Von seiner strohig trockenen Handinnenfläche blättert Schorf ab. Darunter erkennt man die grün schimmernden Adern.

— Nessi? fragt er und meint seine Anfang des Jahres verstorbene Schwester, die ihn ohnehin nur besuchte, solange die Möglichkeit bestand, etwas beiseite zu schaffen.

— Ich bin’s, Alma, deine Frau.

Er wendet sich ihr zu und schaut sie an, als wäre sie aus dem Zoo entsprungen. Nach einer Weile lächelt er und sagt mühsam:

— Obacht.

Eine Wendung, die Alma von früher kennt. Sie nimmt an, daß er damit ausdrücken will, sie gefalle ihm.

— Bin ich hübsch? fragt sie.

Er nickt. Wenig später sagt er deutlich gut und ja, dann formuliert er noch warum und etwas im Zusammenhang mit weiß, was Alma aber nicht versteht. Bei warum glaubt sie, daß Richard fragen will, warum er hier ist oder warum sie erst jetzt kommt. Aber eigentlich könnte so vieles gemeint sein. Warum Otto nicht auf ihn gehört hat. Warum Ingrid mit dem Strohhalm in ihre Limonade bläst. Der Sauerstoff, den Richard über die Nasenbrille erhält, quillt zur Befeuchtung durch einen an der Wand befestigten Wasserbehälter. Große Blasen steigen auf in dem bauchigen Glas. Es gurgelt sehr laut.