— Das muß halt sein, sagt Alma. Eine ihrer Standardantworten, die leider nicht auf alles passen. (Variante: Da kannst du ganz unbesorgt sein.) Auch diesmal gelingt es ihr nicht zu vertuschen, wie wenig von dem, was Richard gesagt hat, bei ihr angekommen ist. Richard wird unwirsch. Sie nimmt alle Schuld auf sich und bittet ihn, er solle es ihr noch einmal sagen, weil in letzter Zeit ihre Ohren so schlecht seien, daß sie aufs erste Mal nicht alles hört. Bei wiederhäusel statt wiederholen weiß sie, was gemeint ist, doch die Lautansammlungen drumherum bleiben ihr ein Rätsel, und so sagt sie halt irgendwas (wenn ich dich recht verstehe), und zur Sicherheit fügt sie hinzu:
— Manchmal bin ich ganz meschugge.
Das verärgert Richard ebenfalls.
— Ja, ja, sagt er mit stirnrunzelnder Miene, als habe er Alma im Verdacht, sie lasse sich gehen oder strenge sich zuwenig an oder wähle den falschen Zeitpunkt, um ihm vorzuführen, daß sie nur Stroh im Kopf hat. Dumm geboren, dumm geblieben. Doch als er wenig später mit den Händen Zeichen in die Luft macht, ahnt Alma nach einiger Zeit, daß er um die Augengläser bittet, die er seit mehreren Monaten nicht mehr benutzt hat. Alma findet die Brille auf dem Bord in der Waschnische, neben dem Glas für die dritten Zähne, die sie unlängst hat generalüberholen lassen. Sie schiebt Richard die Bügel hinter die großen, knorpeligen Ohren, dabei gibt sie acht, daß sie keine der Wunden berührt. Richard strahlt, weil er wieder besser sieht. Jetzt hat Alma den Eindruck, Richard nehme von ihrer Anwesenheit richtig Kenntnis und freue sich, daß sie bei ihm ist. Er blickt sie an. Sie glaubt sehen zu können, daß in seinen Augen eine deutlich wahrnehmbare Schärfe liegt, als gebe es dahinter noch zusammenhängende Gedanken.
Also beginnt sie zu erzählen, von den Umstürzen bei den Nachbarn im Osten, von Ungarn, wo die Diktatur des Proletariats dieser Tage zu Ende gegangen ist, von der Entwicklung in der DDR, wo der 40. Jahrestag des Arbeiter- und Bauernstaates mit Massenverhaftungen gefeiert wurde. Michail Gorbatschow war in Berlin und hat zu weiteren Reformen gemahnt. Das hat Eindruck gemacht. Sie erzählt von den Wahlen in Vorarlberg, wo die ÖVP ihre absolute Mehrheit gehalten hat. Vom Specht, der bei Wesselys das neue Fallrohr der Dachrinne bearbeitet. Ja, den gibt es noch, am Vormittag war er wieder da. Die halbwüchsige Tochter des Wessely-Sohnes, der das Haus jetzt bewohnt, verhindert, daß der Schießprügel aus dem Schrank geholt wird, das Mädchen ist ebenso rührselig wie ich. Stell dir vor, das Mähen des Gartens schiebe ich trotz vieler Vorsätze seit Wochen auf, weil ich beim letzten Mal eine Blindschleiche und einen Frosch umgebracht habe. Kurz vor Mittag haben zwei Straßenarbeiter hereingeschaut und sich fürs Laubrechen angeboten. Unter den Bäumen riecht es schon säuerlich, vor allem die Steinobstblätter fallen, aber das Gras ist fürs Zusammenrechen einfach zu hoch, und dazu der Gedanke an den Frosch und die Blindschleiche, da habe ich die Arbeiter wieder weggeschickt. Mir kommt vor, ich bin in letzter Zeit ein wenig seltsam geworden. Das macht bestimmt die splendid isolation, in der ich lebe, das Alleinsein ist manchmal nicht ganz leicht. Wie ich im Frühling das drohnenbrütige Vierer-Volk auflösen mußte, hat mich das so merkwürdig getroffen, es war ein ganz ähnliches Gefühl wie nach dem letzten Rasenmähen, als ob ich ganz kläglich versagt hätte. Statt daß ich mir denke: Ja, was ist denn eigentlich los, wenn’s nicht klappt, habe ich eben statt fünf nur vier Stöcke oder statt vier nur drei, das ist doch kein Unglück. Aber ich werde ganz deprimiert darüber und bringe es nicht einmal mehr fertig, eine Königin zu töten, wenn sie überzählig ist. Ich glaube, es hat mit den Kindern zu tun, daß sie gestorben sind. Es ist schon abenteuerlich, nach so vielen Jahren, daß diese Schmerzen noch immer nicht verschmerzt sind. Ich denke, daran wird sich nicht mehr viel ändern. Weißt du, wenn eine Königin beim Hochzeitsflug zugrunde geht, und das Volk kriecht so suchend beim Flugloch herum, dann stelle ich mir die Frage, geht jetzt auch dieser Stock kaputt, warum passe ich nicht besser auf, warum sterben sie mir, kaum daß ich ihnen den Rücken zuwende. Ich kann dir nicht sagen, wie froh ich bin, daß bald der Winter kommt. Am Vormittag habe ich im Bienenhaus Kehraus gemacht, Schluß für heuer, das Wetter war genau richtig, ganz wie meine Laune, mittelmäßig, aber nicht von der lästigen Art. Viel Wind. In der Früh, ist dir das aufgefallen, war der Himmel wie aufgebläht, in der Nacht hat es einen kräftigen Pumperer gegeben, ich wollte schon die Polizei rufen, weil ich mir die Sache zunächst nicht erklären konnte, habe dann aber festgestellt, daß vom Wind ein Buch aus dem Regal gefallen ist. Eins von dir. Es muß ganz außen gestanden sein, nomen est omen, es heißt The Outsider. Woher hast du es? Es ist mir bisher nie aufgefallen. Ich denke, das beste wird sein, ich lese es, vielleicht fange ich noch heute damit an, weil eigentlich warst auch du ein Außenseiter. Ich glaube, das ist das, was mich am meisten an dir angezogen hat. Ich weiß noch genau, wie wir uns kennengelernt haben, da waren wir noch ein bißchen jünger als heute, so jung wie das Jahrhundert damals, das war, als wir mit der akademischen Gruppe des Alpenvereins auf die Rax gefahren und den Danielsteig hinaufgegangen sind, du mit deinen Wanderabzeichen am Revers, du hast gesagt, daß das Leben ein Jammertal und sinnlos sei, und ich habe geantwortet, schau dir dieses sonnenbeschienene Kar an, die Latschen, die Felsabbrüche und daß ich all das genießen kann und meine Kraft im Klettern spüre und mich freue, das ist es wert, daß ich lebe. Das war im Jahr 1929, erinnerst du dich. Ich habe immer gehofft, dir deinen Pessimismus nehmen zu können, deshalb habe ich dir regelmäßig von meinen Broten gegeben. Weil du Geld hattest, hast du nie eigene Brote mitgenommen, aber uns anderen fehlte das Geld, um ins Gasthaus zu gehen, deshalb hatten wir Brote und aßen sie im Gehen. Du, es war eine schöne Zeit, die zwanziger und dreißiger Jahre, ich glaube, das war bei mir, was man die Blüte des Lebens nennt. Ich war glücklich, ich meine, insofern glücklich, als ich damals nicht ahnte, daß das Leben ein großes Hindernislaufen sein wird, das auf Dauer müde macht. Für dich waren die fünfziger Jahre die Blüte des Lebens, wir haben einmal darüber geredet, du hast sie ein spätes Geschenk genannt, obwohl den Gedanken, daß der Krieg der Vater aller Dinge ist, darf man gar nicht denken, es stimmt auch nicht, der Krieg ist der Vater von gar nichts außer von weiteren Kriegen. Ich glaube, in den fünfziger Jahren hast du die Zeit wiedergefunden, in die du hineingeboren wurdest, die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, kein entscheidender Unterschied zwischen dem greisen Renner und dem greisen Franz Joseph, und auch sonst traten nur alte Männer auf den Plan, abgesehen von Figl, aber der hatte auf ausnahmslos jedem Geschirr Hirschen und Auerhähne, also im Grunde auch ein alter Mann. Und all diese Herrschaften, ich könnte sie dir aufzählen, die ganze Galerie, das sind die, die die fünfziger Jahre gemacht haben. Für die Jungen war kein Platz, Richard, das hat dir gefallen, stimmt doch, du warst dabei, wie die alten Männer losgelegt und an ihrem besseren Österreich herumgebastelt haben. Vergangenheit, nur als Beispiel, war für die jungen Leute ein irreführender Begriff, denn plötzlich hatten wir eine eigene Zeitrechnung, wie es seinerzeit auch zwei Wetterberichte gab, einen für die Touristen und einen für die Bauern. Du mußt entschuldigen, Richard, es kommt mir heute so absurd vor, was anderswo eben erst passiert war, war in Österreich bereits lange her, und was anderswo schon lange her war, war in Österreich gepflegte Gegenwart. Ist es dir nicht auch so ergangen, daß du manchmal nicht mehr wußtest, hat Kaiser Franz Joseph jetzt vor oder nach Hitler regiert? Ich glaube, darauf lief es hinaus, wie bei einem Brettspiel hat eine Figur die andere übersprungen, die einträgliche Figur ist über die kostspielige hinweg, und plötzlich war Hitler länger her als Franz Joseph, das hat den fünfziger Jahren den Weg geebnet, das hat Österreich zu dem gemacht, was es ist, nur erinnert sich niemand mehr daran oder nur sehr schwach. Ich kann dir sagen, ich war heilfroh, daß wir in der Nachbarschaft die schwedischen Diplomaten und später die Holländer von der Unilever hatten, die lachten, als ihr Bub vom ersten Schultag nach Hause kam und am Klo an die Wand pinkelte, da gab es kein Strafknien oder daß der Krampus nur Kartoffeln und Kohlen bringt, damit das Kind nicht übermütig wird, da hieß es, die Kinder haben eine geschäftige Phantasie, die soll sich ausleben, damit später etwas aus ihnen wird, da wurde eher das Kindermädchen zurechtgestutzt wegen unnötiger Strenge. So Begriffe hatten die, für mich war das anfangs ein kleiner Kulturschock, aber dann habe ich schnell verstanden, in welche Richtung es weitergehen muß, ist ja kein Erfolg, genau besehen, wenn die Kinder eine Alarmanlage gegen den Krampus bauen, die hat sogar funktioniert. So Dinge tun mir heute leid, ich meine, das hätte man früher einsehen können. Mir tut auch leid, daß ich dich damals nicht nach Schweden begleiten durfte, als sie dieses Kraftwerk einweihten, erinnerst du dich, damals warst du Minister, war das nicht eben noch, und jetzt sind schon wieder bald zwanzig Jahre die Sozialisten am Ruder, so ein Jahr ist gar nichts mehr, Richard, wir hätten auch später mehr wegfahren sollen, aber jetzt ist das vorbei, ich will selber nicht mehr, denn wenn ich weg bin, denke ich den ganzen Tag an zu Hause, dort ist es halt doch am schönsten, von Schlafen als Gast kann eh nicht die Rede sein, arbeiten kann man nichts und Konversation machen, das weißt du, ist ebenfalls nicht meine Stärke, mit der fremden Verpflegung, so gut sie sein mag, habe ich auch immer meine Schwierigkeiten, ich brauche keinen zusätzlichen Schmiß, der mir den Bauch verschandelt, dann lieber wochenlang Milch und Haferflocken. Weil’s mir grad einfällt, Gretel Puwein ist zur Zeit in Florenz, du weißt doch, Gretel Puwein aus der Beckgasse, ich hab gehört, so ganz allein, wie sie behauptet, soll sie nicht gefahren sein, und wenn schon, sie ist Witwe, groß getrauert hat sie von Anfang an nicht, soll sie’s genießen. Nach Italien hätte ich auch noch einmal gewollt, erinnerst du dich, wie wir mit den Fahrrädern in Italien waren, 1929, noch vor der Hochzeit, streng dich an, Richard, dein oberkatholischer Vater hätte dich ums Haar erschlagen, weil es noch vor der Heirat war, wenigstens daran könntest du dich erinnern, mir kommt es vor, als wenn es gestern gewesen wäre, wir sind den Po entlang hinunter nach Venedig, in der Nähe von Mestre, nachdem wir das Schiff verpaßt hatten, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Esel schreien gehört, in der Früh, als es dämmerte, weißt du noch, wir übernachteten in der Scheune eines Melonenbauern, das Geschrei riß uns aus dem Tiefschlaf, ich war zutiefst erschreckt über diese unheimlichen Laute in der Dämmerung, von denen ich nie und nimmer gedacht hätte, daß ein Esel dahinterstecken könnte, ich muß lachen, wenn ich nur daran denke, mit dem melodischen I-a in unseren Kinderliedern hatte das wirklich sehr wenig Verwandtschaft, auf mich wirkte es eher, als würde mit einer rostigen Säge die Dämmerung in Scheiben geschnitten, so ein heiseres A-i, a-i, ich weiß noch, ich war sehr aufgeregt, du hast mich in den Arm genommen, du hast gesagt, ein Esel, es ist ein Esel, Richard, woher wußtest du, daß es ein Esel war, nicht einmal in Meidling gab es Esel, also auch bestimmt nicht in Hietzing, deshalb glaubte ich dir die Erklärung auch nicht, obwohl ich dir damals alles glaubte, meistens blind, das darfst du mir glauben, du hast nicht die entfernteste Vorstellung, wie sehr ich dich damals bewunderte, das vergess’ ich nicht, als wir in den Kaltenleutgebner Bergen bei einer Wanderung vom Parapluieberg auf der Hochstraße zum Sparbacher Tiergarten dieser Dame begegneten, einer wirklichen Dame dem Aussehen nach, erinnerst du dich, es war in der Nähe der Kugelwiese, die Frau trug einen Arm, buchstäblich einen Arm voll Türkenbund, daran fand ich damals auch gar nichts Besonderes, du hast sie zur Rede gestellt, und als sie die Nase hochwarf, hast du sie ins Gesicht hinein als dumm beschimpft, so unverfroren warst du, wenn du glaubtest im Recht zu sein, mir war das peinlich, und gleichzeitig war ich stolz auf dich, weil man mir zu Hause nur eingeimpft hatte, Höflichkeit mit Höflichkeit zu überbieten, hingegen, daß es noch etwas anderes gibt als nur Höflichkeit, habe ich von dir gelernt, das ist einer der Gründe, weshalb ich dich jetzt so behandle, als wärst du mir all die Jahre ein treufürsorgender Ehemann gewesen, das erklärt auch, warum mir die Vorstellung, mein Leben mit einem anderen Mann verbracht zu haben, ganz fremd ist, sich das zu wünschen, hieße, sich zu wünschen, ein anderer Mensch zu sein und andere Kinder gehabt zu haben und andere Dinge erlebt zu haben, andere Dinge zu wissen als die, die ich weiß, du, Richard, all diese Dinge und Momente, die ich möglichst lange bewahren will und die es noch immer gibt, wenn ich sie dir erzähle, ich bin so froh, daß ich mit meinen zweiundachtzig Jahren noch halbwegs klar denken kann, sei bloß nicht neidisch, der Zahn der Zeit findet auch an mir genug zu nagen, mehr als mir recht ist, all diese Wehwehchen, und speziell die ewige Müdigkeit, die macht mir am meisten zu schaffen, weißt du, daß immer alles viel mehr Zeit in Anspruch nimmt, als ich dafür veranschlage, was ich früher im Vorbeigehen erledigt habe, ist mittlerweile zu einer Prozedur geworden, als müßte ein ständiger Ausgleich stattfinden, je weniger es zu tun gibt, desto länger muß es dauern, damit meine Vollbeschäftigung erhalten bleibt, ein fleißiger Gaul wird nicht fett, kann sein, aber müde, ich sag’s dir, kaum je, daß ich das Plansoll, das ich mir am Morgen setze, erfülle, ich hab immer alle Hände voll zu tun, und trotzdem wird die Arbeit nicht weniger, der ganze Strauß von morgens bis abends, da fällt mir ein, daß auch die Kinder einmal Türkenbund abgerupft haben, es war während des Krieges bei der Josefswarte, also ganz in der Nähe vom Parapluieberg, ich hatte dort mit den Kindern Farn ausgegraben, und Otto, der hatte oft solche Ideen, puderte mit den Staubgefäßen des Türkenbunds Ingrids Nase ganz dunkel, Otto war damals so zwölf, und Ingrid entsprechend jünger, sieben, wenn ich daran denke, mein Gott, dann stauben die Stempel der Blumen wie im Traum, damals hatte die Sache aber einen Haken, stell dir vor, zu meiner Überraschung war die Farbe kaum wegzubringen, als Ingrid am nächsten Tag in die Schule gehen wollte, du hast sie geschimpft, sie sähe aus wie ein Ameisenbär, sie solle sich schämen, das hast du gesagt, zu Ingrid, deiner Tochter, sie hieß Ingrid, wenn du dich anstrengst, erinnerst du dich, es ist nicht schwer, du hattest vor Jahren eine Tochter, sie hieß Ingrid, und deine Tochter hat wieder eine Tochter, Sissi, das ist deine Enkelin, streng dich an, du hast Enkel, Sissi und Philipp, deine aufgeweckte Nachkommenschaft, Sissi und Philipp, Sissi hat sich vor etlichen Jahren blicken lassen und Fragen über ihre Mutter gestellt auf der Suche nach ihren Wurzeln, damit sie sich in New York wohler fühlt, von sich selbst hat sie nicht viel preisgegeben, und die obligate Geburtstagskarte von ihr habe ich in diesem Jahr auch nicht erhalten und auch keine Urlaubskarte, ich weiß nicht, welchen Schluß ich daraus ziehen soll, vielleicht, daß sie nicht auf Urlaub war, oder, was wahrscheinlicher ist, daß es die erste von weiteren Karten ist, die nicht kommen werde