ir eine eigene Zeitrechnung, wie es seinerzeit auch zwei Wetterberichte gab, einen für die Touristen und einen für die Bauern. Du mußt entschuldigen, Richard, es kommt mir heute so absurd vor, was anderswo eben erst passiert war, war in Österreich bereits lange her, und was anderswo schon lange her war, war in Österreich gepflegte Gegenwart. Ist es dir nicht auch so ergangen, daß du manchmal nicht mehr wußtest, hat Kaiser Franz Joseph jetzt vor oder nach Hitler regiert? Ich glaube, darauf lief es hinaus, wie bei einem Brettspiel hat eine Figur die andere übersprungen, die einträgliche Figur ist über die kostspielige hinweg, und plötzlich war Hitler länger her als Franz Joseph, das hat den fünfziger Jahren den Weg geebnet, das hat Österreich zu dem gemacht, was es ist, nur erinnert sich niemand mehr daran oder nur sehr schwach. Ich kann dir sagen, ich war heilfroh, daß wir in der Nachbarschaft die schwedischen Diplomaten und später die Holländer von der Unilever hatten, die lachten, als ihr Bub vom ersten Schultag nach Hause kam und am Klo an die Wand pinkelte, da gab es kein Strafknien oder daß der Krampus nur Kartoffeln und Kohlen bringt, damit das Kind nicht übermütig wird, da hieß es, die Kinder haben eine geschäftige Phantasie, die soll sich ausleben, damit später etwas aus ihnen wird, da wurde eher das Kindermädchen zurechtgestutzt wegen unnötiger Strenge. So Begriffe hatten die, für mich war das anfangs ein kleiner Kulturschock, aber dann habe ich schnell verstanden, in welche Richtung es weitergehen muß, ist ja kein Erfolg, genau besehen, wenn die Kinder eine Alarmanlage gegen den Krampus bauen, die hat sogar funktioniert. So Dinge tun mir heute leid, ich meine, das hätte man früher einsehen können. Mir tut auch leid, daß ich dich damals nicht nach Schweden begleiten durfte, als sie dieses Kraftwerk einweihten, erinnerst du dich, damals warst du Minister, war das nicht eben noch, und jetzt sind schon wieder bald zwanzig Jahre die Sozialisten am Ruder, so ein Jahr ist gar nichts mehr, Richard, wir hätten auch später mehr wegfahren sollen, aber jetzt ist das vorbei, ich will selber nicht mehr, denn wenn ich weg bin, denke ich den ganzen Tag an zu Hause, dort ist es halt doch am schönsten, von Schlafen als Gast kann eh nicht die Rede sein, arbeiten kann man nichts und Konversation machen, das weißt du, ist ebenfalls nicht meine Stärke, mit der fremden Verpflegung, so gut sie sein mag, habe ich auch immer meine Schwierigkeiten, ich brauche keinen zusätzlichen Schmiß, der mir den Bauch verschandelt, dann lieber wochenlang Milch und Haferflocken. Weil’s mir grad einfällt, Gretel Puwein ist zur Zeit in Florenz, du weißt doch, Gretel Puwein aus der Beckgasse, ich hab gehört, so ganz allein, wie sie behauptet, soll sie nicht gefahren sein, und wenn schon, sie ist Witwe, groß getrauert hat sie von Anfang an nicht, soll sie’s genießen. Nach Italien hätte ich auch noch einmal gewollt, erinnerst du dich, wie wir mit den Fahrrädern in Italien waren, 1929, noch vor der Hochzeit, streng dich an, Richard, dein oberkatholischer Vater hätte dich ums Haar erschlagen, weil es noch vor der Heirat war, wenigstens daran könntest du dich erinnern, mir kommt es vor, als wenn es gestern gewesen wäre, wir sind den Po entlang hinunter nach Venedig, in der Nähe von Mestre, nachdem wir das Schiff verpaßt hatten, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Esel schreien gehört, in der Früh, als es dämmerte, weißt du noch, wir übernachteten in der Scheune eines Melonenbauern, das Geschrei riß uns aus dem Tiefschlaf, ich war zutiefst erschreckt über diese unheimlichen Laute in der Dämmerung, von denen ich nie und nimmer gedacht hätte, daß ein Esel dahinterstecken könnte, ich muß lachen, wenn ich nur daran denke, mit dem melodischen I-a in unseren Kinderliedern hatte das wirklich sehr wenig Verwandtschaft, auf mich wirkte es eher, als würde mit einer rostigen Säge die Dämmerung in Scheiben geschnitten, so ein heiseres A-i, a-i, ich weiß noch, ich war sehr aufgeregt, du hast mich in den Arm genommen, du hast gesagt, ein Esel, es ist ein Esel, Richard, woher wußtest du, daß es ein Esel war, nicht einmal in Meidling gab es Esel, also auch bestimmt nicht in Hietzing, deshalb glaubte ich dir die Erklärung auch nicht, obwohl ich dir damals alles glaubte, meistens blind, das darfst du mir glauben, du hast nicht die entfernteste Vorstellung, wie sehr ich dich damals bewunderte, das vergess’ ich nicht, als wir in den Kaltenleutgebner Bergen bei einer Wanderung vom Parapluieberg auf der Hochstraße zum Sparbacher Tiergarten dieser Dame begegneten, einer wirklichen Dame dem Aussehen nach, erinnerst du dich, es war in der Nähe der Kugelwiese, die Frau trug einen Arm, buchstäblich einen Arm voll Türkenbund, daran fand ich damals auch gar nichts Besonderes, du hast sie zur Rede gestellt, und als sie die Nase hochwarf, hast du sie ins Gesicht hinein als dumm beschimpft, so unverfroren warst du, wenn du glaubtest im Recht zu sein, mir war das peinlich, und gleichzeitig war ich stolz auf dich, weil man mir zu Hause nur eingeimpft hatte, Höflichkeit mit Höflichkeit zu überbieten, hingegen, daß es noch etwas anderes gibt als nur Höflichkeit, habe ich von dir gelernt, das ist einer der Gründe, weshalb ich dich jetzt so behandle, als wärst du mir all die Jahre ein treufürsorgender Ehemann gewesen, das erklärt auch, warum mir die Vorstellung, mein Leben mit einem anderen Mann verbracht zu haben, ganz fremd ist, sich das zu wünschen, hieße, sich zu wünschen, ein anderer Mensch zu sein und andere Kinder gehabt zu haben und andere Dinge erlebt zu haben, andere Dinge zu wissen als die, die ich weiß, du, Richard, all diese Dinge und Momente, die ich möglichst lange bewahren will und die es noch immer gibt, wenn ich sie dir erzähle, ich bin so froh, daß ich mit meinen zweiundachtzig Jahren noch halbwegs klar denken kann, sei bloß nicht neidisch, der Zahn der Zeit findet auch an mir genug zu nagen, mehr als mir recht ist, all diese Wehwehchen, und speziell die ewige Müdigkeit, die macht mir am meisten zu schaffen, weißt du, daß immer alles viel mehr Zeit in Anspruch nimmt, als ich dafür veranschlage, was ich früher im Vorbeigehen erledigt habe, ist mittlerweile zu einer Prozedur geworden, als müßte ein ständiger Ausgleich stattfinden, je weniger es zu tun gibt, desto länger muß es dauern, damit meine Vollbeschäftigung erhalten bleibt, ein fleißiger Gaul wird nicht fett, kann sein, aber müde, ich sag’s dir, kaum je, daß ich das Plansoll, das ich mir am Morgen setze, erfülle, ich hab immer alle Hände voll zu tun, und trotzdem wird die Arbeit nicht weniger, der ganze Strauß von morgens bis abends, da fällt mir ein, daß auch die Kinder einmal Türkenbund abgerupft haben, es war während des Krieges bei der Josefswarte, also ganz in der Nähe vom Parapluieberg, ich hatte dort mit den Kindern Farn ausgegraben, und Otto, der hatte oft solche Ideen, puderte mit den Staubgefäßen des Türkenbunds Ingrids Nase ganz dunkel, Otto war damals so zwölf, und Ingrid entsprechend jünger, sieben, wenn ich daran denke, mein Gott, dann stauben die Stempel der Blumen wie im Traum, damals hatte die Sache aber einen Haken, stell dir vor, zu meiner Überraschung war die Farbe kaum wegzubringen, als Ingrid am nächsten Tag in die Schule gehen wollte, du hast sie geschimpft, sie sähe aus wie ein Ameisenbär, sie solle sich schämen, das hast du gesagt, zu Ingrid, deiner Tochter, sie hieß Ingrid, wenn du dich anstrengst, erinnerst du dich, es ist nicht schwer, du hattest vor Jahren eine Tochter, sie hieß Ingrid, und deine Tochter hat wieder eine Tochter, Sissi, das ist deine Enkelin, streng dich an, du hast Enkel, Sissi und Philipp, deine aufgeweckte Nachkommenschaft, Sissi und Philipp, Sissi hat sich vor etlichen Jahren blicken lassen und Fragen über ihre Mutter gestellt auf der Suche nach ihren Wurzeln, damit sie sich in New York wohler fühlt, von sich selbst hat sie nicht viel preisgegeben, und die obligate Geburtstagskarte von ihr habe ich in diesem Jahr auch nicht erhalten und auch keine Urlaubskarte, ich weiß nicht, welchen Schluß ich daraus ziehen soll, vielleicht, daß sie nicht auf Urlaub war, oder, was wahrscheinlicher ist, daß es die erste von weiteren Karten ist, die nicht kommen werden, was das Mädchen, nein, sie ist eine junge Frau, laß mich nachrechnen, Richard, sie ist bereits siebenundzwanzig, Moment, achtundzwanzig, sie wird ihre ersten Stürze auch hinter sich haben, man könnte die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, was sie nur so lange in New York macht mit der halben Erdkugel zwischen sich und Wien, sie ist in New York, Richard, sie ist Journalistin, Soziologin, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, sie hat eine Tochter, die heißt, wunder dich nicht, Parsley Sage Rosemary and Thyme, such dir einen aus, Parsley Sage Rosemary and Thyme, nicht Thyme, das wäre ein sehr komischer Name selbst in dieser Familie, deinen Enkel, Philipp, ob er noch weiß, wie gerne er als Kind ein Stück der geschleuderten Bienenwaben auskaute, ich habe ihn unlängst im Fernsehen gesehen, ich bin mir fast sicher, daß er es war, er hat Ähnlichkeit mit dir, er ähnelt dir, du hast die dominanteren Gene als ich, der Mund, die Augenpartie, die Kopfform, das kommt aus deiner Linie, auch das politische Engagement, stell dir vor, er hat gegen Spekulanten und für mehr Wohnraum demonstriert, ganz vorne, mit aufgestellten orangen Haaren, als wäre er an eine Steckdose angeschlossen, ich habe mir überlegt, ob ich ihm ein Zimmer bei uns in Hietzing anbieten soll, er kann auch zwei haben oder drei, da besteht kein Mangel, was hältst du davon, daß er irgendwann zur Strafe das Haus kriegt und Sissi das Geld, möchte wissen, wie das ankäme, und wie es ihm geht, dem armen Kerl, weißt du noch, daß er zwei- oder dreimal klammheimlich zu uns nach Hietzing kam, um für sein Zeugnis Geld einzuheimsen, notenmäßig war das noch nicht einmal aufsehenerregend, ich habe zu ihm gesagt, er solle mehr Gebrauch von seinem Hosenboden machen, so ein hübscher kleiner Kerl, der hätte mir alles versprochen, daß er im nächsten Jahr Klassenbester sein wird, kein Problem, na, wir wollen’s mal nicht übertreiben, der hatte die Ferien vor Augen, die dauern bei uns ja lange genug, um jeden Ehrgeiz rechtzeitig wieder einzuschläfern, dann hat er mir ganz gewissenhaft die Hand geschüttelt, früh übt sich, hab ich mir gedacht, das war noch vor Ingrids Tod, und jetzt mit den roten Haaren, wie eine Leuchtboje, und so dürr wie damals, da hat sich nicht viel verändert, und wie er sich freuen konnte so über das ganze Gesicht, ich kann mir nicht helfen, das war später wie weggewischt, die wenigen Male, als er sich noch bei uns blicken ließ, ein Jammer, ich glaube, es hat beiden nicht gutgetan, unseren Enkeln, daß ihre Mutter so früh gestorben ist, ich meine Ingrid, deine Tochter, du hattest eine Tochter, denk nach, dann fällt es dir ein, deine Tochter hieß Ingrid, das ist kein Test oder eine Fangfrage, bitte schau mich nicht so mißtrauisch an, Ingrid haben wir sie genannt, auch Eva war in der engeren Wahl, weißt du noch, damals war das wichtig, na, ob man am Vergessen sterben kann, so wie man erstickt, du wolltest Eva, ich wollte Ingrid, nein, Richard, deine Enkelin heißt Sissi, nein, Ingrid war deine Tochter, Sissi ist deine Enkelin, und Sissi hat wieder eine Tochter, Rosemary, aber das wird jetzt zuviel, ich will nicht noch mehr Verwirrung stiften, Richard, übrigens, die alte Uhr im Wohnzimmer geht wieder besser, vor ein paar Wochen hat sie mehr Zeit verloren, sie geht jetzt wieder fast genau, verstehst du das, Richard, verstehst du das, ich verstehe es nicht.