— Wonach suchst du? fragt sie ihn.
— Nach nichts. Vielleicht nach einem schönen Platzkonzert. Nach Marschmusik.
Aber gleichzeitig dreht Richard das Radio ab, und anstatt die Küche zu verlassen, wie er es sonst immer macht, wenn Alma kommt, setzt er sich an den Tisch zu einem Kaffee, den er sich selbst gekocht hat.
Alma merkt, wie ihre Anspannung steigt. Allein Richards Gegenwart beschleunigt ihren Puls, daran ändert auch nichts, daß Richard im Moment einigermaßen auf der Höhe zu sein scheint. Damit er kein Gespräch anfängt, macht sie viel Lärm mit den Töpfen. Das hat den Nachteil, daß die Bilder von Ingrid sich weiter zurückziehen, viel zu schnell, wie auch die Jahre damals zu schnell verstrichen sind. Alma hatte den Kontakt zu Ingrid wieder anschubsen wollen und immer gedacht, daß noch ausreichend Zeit bleibt. Aber in Wahrheit, wenn sie zurückschaut, muß sie sich eingestehen, daß es mehr Mut oder wenigstens mehr Antrieb verlangt hätte, als sie seinerzeit besaß. Dann war plötzlich auch Ingrid tot.
Die Briefe fallen ihr wieder ein, die sie von Ingrid in ihren letzten Jahren erhalten hat. Das gute Gefühl bricht endgültig weg. Alma fragt sich, wo sie die Briefe hingetan hat. Seit einigen Jahren findet sie sie nicht mehr, trotz mehrfachen Suchens, sie hat sie zu gut versteckt.
— Wie geht es dir? fragt Richard in eine Pause der Küchengeräusche hinein.
— So weit, so gut.
— Als ob das eine Aussage ist.
Alma dreht sich zu ihrem Mann hin. Sie würde ihm gerne von ihrem Traum erzählen, aber solche Ereignisse unterschlägt sie normalerweise, ohne daß sie einen konkreten Grund dafür angeben könnte. Vielleicht, weil es irgendwie ausgemacht ist, daß über die Kinder nicht viel geredet wird. Wo sind die beiden jetzt? Kann das jemand sagen, wenn er sein ganzes Wissen zusammennimmt? Vermutlich nicht. Vor allem ist Almas Bereitschaft, Dinge vor allem deshalb zu glauben, weil sich darin Trost finden läßt, eher gering. Wäre ja auch blödsinnig. Wenn in der Abwasch ein Glas verrutscht oder wenn es für Schritte im oberen Stockwerk keine einfache Erklärung gibt: Ist Otto jetzt doch noch zurückgekehrt? Nein. Sucht Ingrid nach ihren Lieblingshaarspangen, die sie bei ihrem überstürzten Weggang vergessen hat und die noch immer mit anderem Krimskrams in einer der Schubladen im Bad liegen? Nein. Und noch mal nein. Nein.
— Wie wird es mir schon gehen? sagt Alma.
Mit einer Handgeste bittet Richard sie, sich zu ihm an den Tisch zu setzen. Er läßt die Hand ausgestreckt, bis er sicher ist, daß Alma seiner Bitte nachkommt. Sie schenkt sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein. Als Richard sich eine Zigarette anzündet, schließt sie sich auch darin an, weil es selten genug vorkommt, daß sie gemeinsam am Tisch sitzen und sich unterhalten.
— Ich glaube, ich bin schon halb hinüber, sagt Richard.
— Wir werden beide alt, und das Alter ist zu keinem freundlich. Also mach dir nicht allzuviel draus.
(Aber sie hat bestimmt leichter reden als er.)
— Meines ist besonders unfreundlich. Das Leben hat es in diesem Punkt wirklich nicht sonderlich gut mit mir gemeint.
(Alma ist immer wieder erstaunt, wie wenig Mühe es Richard zwischendurch bereitet, über allgemeine Dinge zu reden, während er gleichzeitig weder Monat noch Tag nennen könnte. Sie hat keine Erklärung, warum das so ist.)
— Aber wir werden trotzdem nicht darüber streiten, ob du’s besonders schlimm getroffen hast. Vielleicht sind das gar keine so schlechten Erfahrungen, schlecht schon, natürlich, aber hoffentlich nicht unnütz.
(Weisheiten, die zu keinen Weisheiten führen, die man trotzdem mit Gleichaltrigen wechselt, um einander zu beruhigen.)
— Ich wüßte nicht, wozu es gut sein sollte. Vom Kranksein wird man alt, und vom Altsein krank, und von beidem zusammen stirbt man. Am schlimmsten ist, daß man mich daheim und in der Schule nicht darauf vorbereitet hat. Aufs Sterben schon. Aber vor dem davor hat mich keiner gewarnt, obwohl das Sterben das wenigste sein dürfte.
(Es ist seit langem das erste Mal, daß er das Wort Sterben ohne Angst benutzt.)
— Ich hab es mir auch anders vorgestellt, bevor ich erwachsen war.
(Sie lacht, aber nur kurz, unsicher.)
— Sehr richtig, so ist es. Ich habe es mir auch anders vorgestellt.
(Sie denkt: Ich hätte mich gerne mal mit ihm über seine Jugend im Verhältnis zu meiner unterhalten. In Meidling führte ich ein fast ebenso freies Leben wie die Halbwüchsigen heute, jedenfalls im Vergleich zu ihm. In seiner oberklerikalen, reichen Familie hatte er ja so gut wie keine Spielräume.)
— Darf ich dich etwas fragen? sagt er.
— Was liegt dir auf der Seele?
(Sie beobachtet Richard, der dem Tabak seiner Zigarette beim Verglühen zusieht, als empfange er von dort seine augenblickliche Inspiration. Er redet, ohne aufzusehen:)
— Ich würde gerne wissen, wann das beginnt, daß man den Kopf nicht mehr rechts und nicht mehr links wenden kann. Beginnt das plötzlich, oder schlittert man da hinein, ohne es zu merken?
— Der Beginn ist schleichend, nehme ich an. Links geht es vielleicht noch bergauf, während es rechts schon bergab geht.
(Sie legt einen Moment lang ihre Hand auf seine und drückt sie. Botschaften, die von den Fingerspitzen ausstrahlen.)
— Es ist, sagt er, als hätte ein Magnet den Kompaß ruiniert. Es gibt doch diese Stellen im Ozean, an denen die Kompaßnadeln zu rotieren beginnen.
(Weshalb dann die Schiffe, an deren Kurs sich irgendwann niemand mehr erinnert, den Launen des Wetters überlassen bleiben. Aber das traut Alma sich nicht zu sagen. Wie sie auch nicht erwähnen will — obwohl es ihr in den Sinn kommt —, daß es einen Teil des atlantischen Ozeans gibt, den tropischen Teil, den die Spanier el Golfo de las Damas nannten, weil dort die Schiffahrt so leicht war, daß selbst die zartesten Hände das Steuer führen konnten. Gibt es das auch im Leben? Das müßte schön sein. Ein Damenmeer. Und wann wäre das bei Richard und ihr gewesen? Wo fing es an und wo hörte es auf? Und wie gestalteten sich die Übergänge? Abrupt oder mit einer langsam aufkommenden Brise? Sie versucht sich in die fraglichen Zeiten zurückzuversetzen. Sie schließt die Augen, und es tauchen Kindheitserinnerungen auf. Kindheit gilt nicht, überlegt sie, Kindheit ist ohnehin immer viel zu schnell bei der Hand, es müßte später gewesen sein. Müßte. Denn glücklich war sie auch später oft, nehmen wir nur, als Ingrid ihre erste Regel bekam. Aber unbeschwert?)
— Weißt du noch, sagt sie, wie vor dem Ersten Krieg im Sommer immer der Spritzwagen in die Gassen kam? Daran könntest du dich erinnern.
(Ein ganz gewöhnliches Ereignis: ein von zwei starken Pferden gezogenes riesiges Faß auf vier Rädern mit reichlich an der Hinterseite ausströmendem Wasser. Mit diesem Wasser wurde an heißen Sommertagen die staubige Straße genetzt. Der Spritzwagen war immer von einer Menge Buben begleitet, die sich die Hosen ganz hoch hinaufsteckten, um möglichst weit in den Strahl laufen zu können. Die Mädchen, wenn Mädchen überhaupt mitgingen, liefen ganz weit außen, damit nur die Füße naß wurden, denn sie durften die Röcke nicht hochheben. Eigentlich wäre Alma auch gerne mitgelaufen, aber sie wußte, daß das nur Gassenkinder tun, solche, deren Väter auf den Fingern pfeifen. Ihre Mutter, die oft für einen Augenblick aus dem Fenster schaute, hätte es bestimmt nicht gern gesehen, wenn ihre Tochter mit von der Partie gewesen wäre. Daran fand Alma damals noch nicht einmal etwas Besonderes.)