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— Was? fragt er.

— Verstehst du das?

— Was?

— Es ist nicht wichtig, Richard.

— Was?

— Sei froh, Richard, wichtig und unwichtig, ja und nein, das gibt es alles nicht mehr.

— Was?

— Ja, mein Gott, was? Was? Ich habe auch viele Was?

Zum Beispiel, das würde ich gerne zur Sprache bringen.

Sie tut es aber nicht, schon seit Jahren: Weshalb er seiner Schwester den Garten in Schottwien überschrieben hat, das hat sich ihr nie erhellt. Und weshalb er 1938 ohne Angabe plausibler Gründe sein Geld aus dem Geschäft ihrer Mutter gezogen hat, das hat sich ihr ebenfalls nie erhellt. Und warum die Lüge mit Gastein, 1970, das schwärt am heftigsten, wenn es ihr in den Kopf kommt, und es kommt ihr sehr oft in den Kopf. Aus der Korrespondenz zwischen Richard und Nessi, die sich in Richards Schreibtisch gefunden hat, geht hervor, daß er 1970 nicht nur mit seiner Verwandtschaft, sondern auch mit Christl Ziehrer in Gastein war. Alma würde seit Monaten gerne fragen, was? was? das würde sie doch gerne wissen, was ihn dazu bewogen hat, sie zu hintergehen und dabei seine Verwandtschaft ins Vertrauen zu ziehen, dieses scheinheilige Pack. Sie würde gerne sagen, wie schäbig sie das findet und daß dies während seiner ersten Monate im Pflegeheim der wichtigste Grund war, weshalb sie, Alma, die doch eigentlich nicht nachtragend ist, viele der avisierten Besuche im letzten Moment schwänzte. Es war ihr irgendwie egal.

— Weißt du noch, als ihr damals in Gastein wart, du und Nessi und Hermann? 1970? Du hast nie viel von diesem Urlaub erzählt.

— Aha?

Geheimnisse, die er gut gehütet hat. Und wofür? Für wen? Für niemanden. Um sich die Geheimnisse irgendwann selbst nicht mehr verraten zu können. Schätze, von denen er vergessen hat, wo sie vergraben sind. Bäume, die als Merkhilfe dienen sollten. Richard, die Bäume sind umgefallen. Bäche, die als Merkhilfen dienen sollten. Die Bäche, ich glaube, Richard, die haben sich ein neues Bett gegraben. Flüsse. Die sind angeschwollen. Seen. Die sind ausgetrocknet. Was ein Fluß war, ist ein See. Wie Fischkot sinken die Ereignisse zum Grund, zum Grund, das heißt zum Meer. Aber lassen wir das.

Alma steht auf. Sie hat einen trockenen Mund. Da kein sauberes Glas zu finden ist, trinkt sie das Wasser mit gebeugtem Rücken vom Hahn. Es tut ihr leid, daß sie versucht hat, Richard über die Gastein-Episode auszufragen. Sie möchte es wiedergutmachen. Sie setzt sich zurück ans Bett, und weil sie in dem Zimmer weiterhin allein sind, singt sie für Richard das Lied Der Winter ist vergangen, das sie gerne miteinander gesungen haben vor mehr als vierzig Jahren. Sie singt mit leiser Stimme, da muß es in Richards Gehirn einen hellen Fleck geben, denn er beginnt, ihre Hand zu streicheln, und tut es während des ganzen Liedes. Als Alma zu Ende gesungen hat, unternimmt er einige Male den Versuch, sich aufzurichten. Aber sein Körper gehorcht ihm nicht, wie vor Jahren sein Gehirn aufgehört hat zu gehorchen, wie vor Jahren seine Kinder aufgehört haben zu gehorchen. Sein welkes Gesicht spannt sich ärgerlich, sein Blick ist grimmig, seine Mundwinkel gehen in bitterem Schwung nach unten, als wolle er sagen, es war harte Arbeit, bis hierher zu kommen, und das ist der Lohn, ich fasse es nicht, das ist der Lohn. Er formuliert mühsam mehrere zu bloßen Lauten eingesiedete Begriffe, ehe er unter dem leisen Druck von Almas Hand zurück in sein Kissen sinkt.

— Ist schon gut, Richard. Laß gut sein. Mach dir keine Sorgen. Kümmer dich nicht mehr darum.

Er läßt ein unzufriedenes Knurren hören, nimmt aber keinerlei weiteren Anlauf.

— Mach dir keine Sorgen, wiederholt Alma sanft.

Einen Augenblick später klopft es. Eine Krankenschwester betritt den Raum, ein junges Mädchen mit ganz kurz geschnittenen dunklen Haaren und einer heiseren Stimme und der Frage, ob der Herr Doktor einen Saft möchte.

Die Schwester reicht Alma ein Glas mit gelber Flüssigkeit, die nach Orangensirup riecht, einen Strohhalm dazu. Alma führt den Strohhalm behutsam zu Richards Mund. Richard nimmt langsame, kleine Schlucke, bei denen die Sehnen an seinem Hals stark hervortreten. Der Knorpel an seiner Kehle hüpft heftig auf und nieder.

— Ich schicke jemanden, der die Blutkonserve abhängt, sagt die Schwester.

Alma wirft einen Blick auf den Blutsack, der mit kopfstehender Beschriftung an einem Galgen neben dem Bett baumelt. Bei Almas Eintreten sind noch dicke Tropfen langsam aus dem Gummibeutel in einen kleinen Zylinder gefallen und von dort in den Schlauch geflossen, der zu Richards rechtem Handrücken führt. Jetzt ist der Beutel leer.

Die Krankenschwester geht nach draußen. Eine Minute später kommt eine Ärztin, die den blutgefüllten Schlauch mit geübten Handbewegungen unterhalb des Sackes abklemmt. Die junge Frau schraubt den Schlauch aus der Kanüle, die in Richards Handrücken steckt. Sie hält das offene Ende des Schlauchs mit der einen Hand nach oben, und mit der anderen Hand spritzt sie eine klare Flüssigkeit in die Kanüle, zum Ausspülen, wie sie sagt. Sie verschließt die Kanüle mit einem kleinen roten Deckel. Dann schenkt sie Alma ein aufmunterndes Lächeln und sagt: