Zwischen den Möbeln und dem Gerümpel hindurch, vorbei an Ottos Tretauto, schiebt sich Alma zum nach Westen gelegenen Fenster und öffnet es, um frische Luft einzulassen. Als sie den linken Flügel befestigen will, fällt die Ringschraube aus der Wand. Alma denkt, ja, richtig, das gab’s schon mal, das hatten wir schon öfters. Im Sommer. Sie hebt die Ringschraube auf, dreht sie notdürftig in das ausgeleierte Loch, hängt den Haken in den Ring, knipst einige hohle Fliegenkadaver und Mäusekötel aus den Ritzen des inneren Fensterbrettes, das ganz schrundig ist von den Jahren, und blickt hinaus über die Gärten und Häuser in die Abenddämmerung über dem Bezirk. In einer Luftströmung, die über das Wiental hereinkommt, bewegt sich leise das trockene Laub in den Bäumen, halb sich abzeichnend in dem fahlen Licht, halb schon verwischt. Über dem Lainzer Tiergarten bildet sich dichtes Gewölk, Haufenwolken und gehäufte Schichtwolken mit Quasten am Bauch. Der Himmel in dieser Richtung ist vollständig bedeckt, darunter liegt kompakter Schatten. Die Farbe der Bäume schlägt kaum mehr durch. Die Wolken ziehen heran, träge und schwer, wie eingeladen von Almas Blicken. Bald werden auch die Dachfirste und Giebel, die dort hinten zu sehen sind, mit dem finsteren Milieu verschmelzen.
Alma wartet mit vor der Brust verschränkten Armen und hält Ausschau. Sie weiß nicht worauf und wonach.
Damals, kurz nach Mitternacht, als Ingrid kam und sie weckte, weil es an der Türe klopfte und Ingrid sich ängstigte. Es war Otto, der nicht hereinkonnte. Ingrid hatte alles gut versperrt. Ottos letzte Nacht daheim, bevor er wieder zum Barrikadenbau loszog und sich freiwillig einer Kampfeinheit anschloß. Zwei Jahre zuvor hatte er noch Briefe geschrieben aus dem Kanutenlager. Mit musizierenden Engeln am Briefkopf. Er hatte die Engel von einem Quartett abgepaust und mit Wasserfarben koloriert.
Kommentar überflüssig.
Denn seinen Engeln befiehlt er um deinetwillen, dich zu behüten auf allen deinen Wegen. / Sie werden dich auf Händen tragen, damit dein Fuß auf keinen Stein stoße. / Über Löwen und Nattern kannst du schreiten, auf Junglöwen und Drachen kannst du treten. (Psalm 91,11–13)
Wirklich und wahrhaftig.
Ja?
Noch einmal?
Das gibt es nicht.
Zögernd wendet Alma sich vom Fenster ab. Sie geht zur Tür, drückt die Tür hinter sich zu, nimmt die Gedanken an ihre Kinder mit, die Treppe hinunter, piano, als lauschte sie etwas anderem, einer anderen Stimme. Ihre rechte Hand gleitet über die von Tausenden Kinderhänden, Erwachsenenhänden geglättete (abgenutzte?) Kanonenkugel, die Otto zufolge 27 ½ Stunden brauchen würde, um in Gefechtstempo den Äquator zu umfliegen (er mußte es strafweise für die Schule ausrechnen). Sie hält kurz inne. Versonnen. Erstaunt. Falten zwischen den Brauen. Sie streicht an den Seiten über ihr Kleid. Plötzlich empfindet sie, wie leer das Haus ist, so anders als am Anfang, Otto und Ingrid, ihre Mutter oft da, und Richard, der sich freute, wenn recht viel Besuch kam. Von den fünf Leuten, die hier gelebt haben, ist nur mehr sie selbst übrig. Sie nickt langsam, mehrmals. Dann geht sie die Kellertreppe hinunter und holt aus der Kühltruhe einige von den besseren Vorräten, die sie ursprünglich für Besuche gespart hat und langsam vergißt, weil sie keine Besuche mehr will. Sie legt die Vorräte zum Auftauen in die Küche. Von dort biegt sie ins Wohnzimmer und dreht in der Hoffnung auf gute Neuigkeiten bei den Nachbarn im Osten den Fernseher an. Doch das Herunterleiern der Meldungen ohne jede Anteilnahme erschüttert sie diesmal ganz besonders. Noch ehe die
Zeit im Bild zu Ende ist, schaltet sie auf einen anderen Sender, auf dem ein harmloser Blödsinn mit Fritz Eckhard läuft. Aber dieser Kitsch geht ebenfalls über ihre Kraft, und eine Dokumentation zur Entstehung des Lebens wiederum ist zu hoch für sie, obwohl das Thema sie interessiert. Es ist von Ketten von Aminosäuren die Rede, die sich nach einer bestimmten Ordnung aneinanderreihen und verbinden. Doch wie daraus Leben entsteht, offenbart sich ihr nicht. Sie dreht den Fernseher ab, ein wenig frustriert. Sie nimmt das Buch über die Outsider zur Hand, das in der vergangenen Nacht aus dem Regal gefallen ist, mal sehen, vielleicht gelingt es ihr, darin etwas über Richard zu erfahren. Aber auch hier: Fehlanzeige. Bereits auf der ersten Seite stolpert sie über mehrere Wörter, die ihr nichts sagen und die auch im Langenscheidt nicht angeführt sind. So stellt sie das Buch unverrichteter Dinge ins Regal zurück. Sie geht wieder zum Sofa, legt sich hin, dreht sich mit dem Gesicht zum großen Fenster, die Beine leicht angezogen, Knie auf Knie, die Knöchel aneinandergeschmiegt. In dieser Stellung lauscht Alma auf die vertrauten Geräusche im Haus, friedlich, sanft liegt sie da, geduldig, auf nicht unangenehme Weise einsam, also nicht einsam, sondern allein. Vielleicht niedergeschlagen, ja, ein wenig niedergeschlagen, weil die Möglichkeit, Wissen zu erwerben, auch für sie nachgelassen hat. Oft, wenn sie trotz zunehmender Übung in der Kunst des Weglassens und Einsparens schon am frühen Abend zu nichts mehr zu gebrauchen ist und lediglich das Bedürfnis verspürt, an nichts zu denken, nur still zu liegen, sagt sie zu sich: Das war wieder nicht mein Tag, der sollte bald kommen. Sie sagt es sich auch jetzt: Das war wieder nicht mein Tag, der sollte bald kommen. Gleichzeitig nimmt sie ohne Bitterkeit zur Kenntnis, wie unsinnig ihr Wunsch ist, weil dieser Tag nicht kommen kann, sie wüßte nicht wie und womit. So starrt sie erwartungslos in sich hinein, ohne glücklich oder unglücklich zu sein, ohne recht schlafen zu können, mit einem Gefühl, als ob der Raum um sie herum schaukelte, fern von ihr. Windböen laufen an den Fenstern auf, eine lose Scheibe klirrt leise, eine Viertelstunde später wird Regen gegen das Haus geworfen. Mit klopfendem Herzen und erhitzten Wangen lauscht Alma nach draußen, auf das Prasseln und Gluckern und Brausen und später auf ein dumpfes Grollen, das sich über die anderen Geräusche legt. Dieses Grollen veranlaßt sie aufzustehen, die Deckenlampe zu löschen und durch eines der türhohen Fenster in den Garten zu blicken, auf das Bienenhaus und auf die Bäume, die mit ihren Kronen schwarz gegen schwarz vor den Hintergrund und gegen den Himmel gestemmt sind. Es ist kein Lichtschimmer dort oben. Alma denkt, hoffentlich gibt es nicht wie beim letzten starken Regen kleine Bäche in der Veranda, das hätte noch gefehlt. Sie hatte drei Sachverständige im Haus, und keiner wußte eine wirkliche Lösung ohne einen Umbau im großen Stil. Aber für wen? Für mich? Für mich lohnt es sich nicht, die paar Jahre, die ich noch lebe, wird es schon halten, dann sollen sich andere drum kümmern. Und der dritte Sachverständige bestärkte Alma in dieser Ansicht. Er riet ihr, am besten nichts anzurühren, solange es nicht wirklich ganz arg werde, gegen Schnee, Eis und Hitze fände sich kaum ein wirklich gutes Material (siehe die Frostaufbrüche der Straßen). Seither befürchtet Alma, daß es eines Tages wirklich ganz arg werden wird. Ansonsten, das ist ihre Meinung, soll das Haus ausdienen, mehr wird nicht mehr verlangt.