Das Gewitter ist herangekommen. Es gießt wie aus Schaffeln. In Abständen von drei, vier Sekunden entladen sich zickzackförmige Blitze, von denen die meisten sich gabelförmig spalten. Die Blitze sind weiß und blendend hell, manchmal leicht ins Bläuliche spielend, andere Male orangefarben. Die Mehrzahl der Blitze ist von keinem Geräusch begleitet, nur von Zeit zu Zeit hört Alma in der Ferne ein leichtes an- und abschwellendes Rollen. Alma würde gerne die Sekunden zählen, aber wegen der Häufigkeit der Blitze und der Seltenheit des Donners kann sie nicht unterscheiden, zu welchem Blitz das Grollen gehört. Deshalb zählt sie für sich so dahin, angenehm betäubt vom mechanischen Aneinanderreihen der Zahlen, in Betrachtung der Schattenrisse im Garten, der Regenschraffuren, von denen sie nicht loskommt, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig, damit sie nicht an all diese Dinge denken muß, die wie gewohnheitsmäßige Altersschmerzen sind, dort, wo es durch allzu ausgiebigen Gebrauch zu Abnützungen gekommen ist, wo durch endlose Wiederholungen zwei Gedanken auf empfindliche Nerven drücken.
Daß sie Otto nicht in ihren Schoß betten konnte. Sie kann denken, soviel sie will, es gibt keinen Ersatz dafür, daß sie ihre Kinder, als sie starben, nicht in den Armen gehalten hat. Manchmal denkt sie mit einem sacht unter der Asche glühenden Groll, die Kinder hätten besser auf sich aufpassen sollen. Aber in Wahrheit ist es ein Vorwurf gegen sich selbst, weil das Aufpassen und Beschützen in den Aufgabenbereich der Mutter fällt. Sie würde es gerne besser machen, sie würde — doch wenigstens — den Kopf des toten Otto in ihren Schoß nehmen dürfen und den Kopf der toten Ingrid. Ob das eine Rettung wäre? Vielleicht. Und ihren Mann, Richard, würde sie in den großen Fauteuil setzen, den er zuletzt bevorzugt hat. Sie würde ihm den grün bezogenen Schemel zum Hochlagern der Füße bringen, dann wären alle versammelt (nochmaliges Zunehmen des Regenprasselns), alles wäre in Ordnung (wieder ein oranger Blitz), vielleicht nicht in Ordnung, nein (was für ein Sauwetter), aber besser.
Einmal ging Alma rüber ins Bad, Ingrid saß völlig verschlafen am Klo, da war Ingrid bereits siebzehn oder achtzehn. Alma streichelte Ingrids Kopf und drückte ihn gegen ihren Bauch, es war wie in alten Zeiten.
Ja, die alten Zeiten. Die glorreichen alten Zeiten, in denen man so leicht versackt.
Und jetzt?
Jetzt stillen die Rosen ein letztes Mal in diesem Jahr ihren Durst.
Jetzt knickt der Wind die Blumen auf den Gräbern, sofern die Blumen nicht aus Plastik sind.
Dann ein Donnerpoltern, ganz nah, als fielen alle Bilder von den Wänden, und die Menschen aus den Bildern und das Geißlein aus der Uhr.
In der Schule hat Alma gelernt, daß sich die Farben eines rasch rotierenden Windrads im menschlichen Auge vermischen, blau und gelb zu grün. Wenn jedoch bei völliger Dunkelheit ein Blitz das rotierende Windrad für eine Hundertstelsekunde erhellt, wird das Windrad in Ruheposition gesehen, die Farben klar voneinander abgegrenzt. Aus demselben Grund scheinen die heimeilenden Vögel in der Luft erstarrt zu sein, wenn der Blitz sie erleuchtet. Ganz ähnlich frieren die Dinge in der Erinnerung ein; als würde die Erinnerung das Farbengemisch der Vergangenheit in seine Bestandteile zerlegen und einzelne Farben herauslösen, als würde die Erinnerung die Vögel (Tauben), die vor Jahren in eilender Bewegung waren, für einen Augenblick ans Gewitter nageln.
Der Wind hat am Fenster gerissen, das Fenster hat am Haken gerissen, der Haken hat an der Ringschraube gerissen, die Ringschraube hat am Holz gerissen, das Holz hat nachgegeben, und die Ringschraube ist aus der Wand gefallen. Eine Weile dreht sich das Fenster lose in den Luftströmungen über dem westlichen Rand der Bundeshauptstadt, Wien, unabsetzbare Königin an der Donau. Die Angel quietscht, das Fenster wendet sich ein Stück zu dem in schwerer Müdigkeit harrenden Kinderspielzeug, zu den Briefen, denen der Adressat abhanden gekommen ist. Das Fenster wendet sich nach vorn, zurück, nach vorn. Dann schlägt es in einer Böe an die Wand, und das Glas springt in Scherben aus dem Rahmen heraus.
Alma stellt sich ein Glas Fernet aufs Nachtkästchen (auf daß wir nicht alleine sterben müssen). Sie zieht ihre Kleider aus, schlüpft in ein frisches Nachthemd, das mit den Marienkäfern. Sie schiebt sich unter die schwere Decke, nimmt den Grünen Heinrich vom Nachtkästchen und richtet die Lampe so, daß der Lichtkegel genau auf die aufgeschlagenen Seiten fällt.
Wie sie bloß hierher gekommen ist? Es ist verrückt. Sie kann es nicht fassen. Wie bloß? Es ging alles so schnell, nicht lange gefackelt, einmal umgedreht, einmal hingeschaut, schon vorbei.
[Applaus. Ende.]
In dem Zimmer hängt eine Federzeichnung an der Wand, ein Blatt im DIN-A3-Format, das der Enkel, Philipp, der Großmutter geschickt hat, der Datierung nach, als er zwölf war. Unten rechts, in einer allürenhaften Mischung aus Groß- und Kleinbuchstaben, hat er einen Titel notiert: Die Füße meiner Schwester Sissi. Tatsächlich bietet das Blatt nur wenig mehr: Senkrecht ins Bild fallende Glockenhosen, der obere Rand knapp über Kniehöhe, das linke Knie von einer Schraffur aus vier Strichen und einem Querstrich markiert. Unterhalb der Hosen gerippte Socken, entlang deren man ein gutes Stück weit in die Hosenröhren hineinsehen kann. Dann stumpfnasige Schuhe, hauptsächlich die Sohlen. Der linke Schuh liegt beinahe waagrecht nach seiner Seite, während der rechte, aufrecht stehend, leicht nach vorn und ein wenig zur anderen Seite kippt, woran, wie auch an der dreispitzförmigen Öffnung der Hosenröhren, zu erkennen ist, daß Sissi während des Zeichnens auf dem Rücken gelegen ist, vielleicht lesend, auf ihrem Bett, vielleicht schlafend, auf Philipps Bett, und deshalb die Schuhe.
[Applaus. Ende.]
Eins noch — was Alma sich?
Sie fragt sich, warum man der abenteuerlichen Idee von Gott und dem ewigen Leben mehr Wahrscheinlichkeit zuspricht als der sehr viel einfacher, wenn auch nicht leichter zu denkenden Variante, daß es mit dem Tod aus und vorbei ist und daß wir (wir) nicht wieder auf die Füße fallen. Schon im Leben immer der Wunsch, auf die Füße zu fallen, und noch zum Tod hin das sich Klammern an die durch nichts bestärkte Hoffnung, daß es ewig so weitergehen wird.
Daß es in ihrer Kindheit hieß, an ihr sei ein Bub verlorengegangen. Ja?
Wie die Tivoligasse damals ausgesehen hat? Eine breite, graue Straße, grau, grau, holprig und staubig.
Moment —.
Der 21. Februar 1945. Als viele der wertvollen Vögel aus dem schwer getroffenen Tiergarten entkommen und in die fensterlosen Hietzinger Villen flüchten konnten. Die Vögel wurden von den in der Stadt verbliebenen Kindern sichergestellt — was man halt damals sicherstellen nannte. Gemeinsam mit einem Sohn von Dr. Jokl hat Otto einen Tukan eingefangen, der soll bei Jokls im Kochtopf gelandet sein als Abwechslung auf dem seit Wochen eintönigen Speiseplan.