— Ich habe die Lizenzen, die ich heute mit der Post zurückerhalten habe, in einen Ordner abgelegt. Sie stellen das Spiel mit Ende des Jahres ein.
— Wer kennt Österreich?
— Nach einundvierzig Jahren. Plus der Jahre, die ich das Spiel in Eigenregie vertrieben habe.
— Wenn ich an Österreich denke in der Nacht.
— Schade, ja.
— Papa, ich mache heute abend eine kleine Grillfeier. Willst du kommen? Dann unterhalten wir uns darüber.
— Kenne ich jemanden? Außer dir?
— Frau Puwein?
— Sagt mir nichts.
— Herrn Prikopa?
— Der vom Fernsehen? Sachen zum Lachen?
— Ist der nicht schon tot?
— Einen anderen Prikopa kenne ich nicht.
Funkstille.
— Ich glaube, ich würde es vorziehen, daheim zu bleiben. Trotzdem danke, daß du an mich gedacht hast. Du nimmst es doch nicht persönlich?
— Warum sollte ich es persönlich nehmen?
— Dann ist ja gut.
— Ist es traurig für dich, daß sie das Spiel einstellen?
— Ein wenig. Nicht sehr.
Funkstille.
— Weißt du, in der allerersten Ausgabe von dem Spiel lautete die letzte Spielregeclass="underline" Der Verlierer darf nicht lachen. Das fand ich mit Anfang zwanzig originell. Als ob in Österreich je jemand gelacht hat, wenn er unter den Verlierern war. Man war ja nahezu immer unter den Verlierern. Heute, wenn ich das Fernsehen andrehe, und ich sehe diese Shows mit jungen Leuten, die sich einsperren lassen, ist es genau das Gegenteil. Wer verliert, tritt vor die Kamera und sagt, danke sehr herzlich, es war toll, ich bin stolz, derselbe geblieben zu sein. Das leuchtet mir nicht ein. Wenn ich verloren habe, war ich hinterher immer ein anderer. Ich habe nie gern verloren. Das Verlieren hat mir nie sonderlich gutgetan.
Funkstille.
— Nur Idioten verlieren nie, sagt Philipp.
— Das Spiel hätte man nochmals modernisieren können. Andererseits, was soll’s, es ist vorbei. Habe ich dir je erzählt, daß DKT vor dem Krieg Spekulation geheißen hat und daß die Nazis es verbieten wollten, weil sie gegen das Geld eingestellt waren? Da hat man das Spiel kurzerhand in Das kaufmännische Talent umgetauft, das klang nach Fortbildung und ist noch heute erfolgreich. Die Deutschen nennen es ohne Genierer Monopoly.
— Wer kennt Österreich? klingt ebenfalls nach Fortbildung.
— Ist auch Fortbildung. Na, wie schon gesagt: Vorbei. Mach dir keine Gedanken um mich. Vielleicht ist es tatsächlich nicht sonderlich wichtig, daß die Leute wissen, wie man am schnellsten von Kufstein nach Bruck an der Leitha gelangt. Es ist ja auch mit mir so, um ehrlich zu sein: Ich will lieber zu Hause bleiben. Okay? Ich leg mich wieder nieder. Nett, daß du angerufen hast, Philipp.
— Ja, du, in dem Fall.
— Und sei mir nicht böse, daß ich nicht komme. Es riecht irgendwie nach Regen.
— Das sagt auch Johanna.
— Die Johanna von vor —?
— Ja, die.
— Siehst du sie hin und wieder?
— Hin und wieder trifft es ziemlich genau.
— Ich wollte nicht neugierig sein.
— Ist schon okay.
— Also, bleib gesund.
— Du auch.
Philipp legt den Hörer auf. Er geht raus vor die Tür, wo gerade das Essen zugestellt wird, und wirft ein Fischfilet neben die Vortreppe. Das Filet ist für die Katze bestimmt, die sich seit zwei Tagen ebenfalls rar macht (weil sie im Dachboden vom Rattentod gefressen und ihr Lebensgeschäft in einem Schrank der oberen Diele zum Abschluß gebracht hat — aber das weiß Philipp noch nicht). Er rammt die Fackeln in den Boden, legt ein Stromkabel in den Garten und setzt die Hochzeitsmusik in Gang. Sogar den Küchentisch schleppt er ins Freie und bedeckt ihn mit einem weißen Tischtuch, damit das Ganze nach etwas aussieht. Dann besteigt er neuerlich die Stühle bei der Mauer in der Hoffnung, den wenigen Gästen, die ihr Kommen zugesagt haben, noch welche hinzuzufügen.
Der ältere Herr, der ihn vor einigen Wochen mit der Drahtbürste bedroht hat, pflückt Himbeeren. Philipp macht auf sich aufmerksam, indem er einen guten Abend wünscht. Der Mann dreht sich Philipp zu, mißt ihn mit einem gründlichen Blick. Philipp zweifelt im ersten Moment, ob der Mann ihn erkennt. Immerhin trug Philipp bei der bisher einzigen Begegnung eine Gasmaske und eine Schutzbrille. Nach einer langen Sekunde, während der Philipp Rauchgeruch von seinem Grill wahrzunehmen glaubt und eine kurze Hoffnung spürt, die ihn irritiert, weil nicht der leiseste Anlaß besteht, sich Hoffnungen zu machen, grüßt der Nachbar retour, nicht sonderlich freundlich, auch nicht sonderlich unfreundlich, aber in einer Art demonstrativer Geduldsausübung, die Philipp begreifen läßt, daß alle über ihn Bescheid wissen. Er würde am liebsten auch diesmal die Gasmaske und die Schutzbrille vor dem Gesicht tragen oder gleich ein vor Mund und Nase gebundenes Taschentuch. Er schaut den Nachbarn an, gekränkt, beleidigt, voller Unbehagen und doch auch, obwohl er nach außen hin ruhig bleibt, um Mitleid heischend, innerlich auf Knien vor dem nachbarlichen Gegenüber, dessen Gedanken klar vor Philipps Augen stehen: Das also ist die nächste Generation, dieser kleine Spion und Abweichler, er hat das Klettern am Stammbaum einer windschiefen Familie erlernt, und jetzt nutzt er die so erworbenen Fähigkeiten, um auf Stühle zu steigen, die entlang seiner Gartenmauer stehen. Philipp beginnt zu reden. Der Mann nimmt seine Beschäftigung wieder auf, hört aber, was durch gelegentliches Aufblicken signalisiert wird, in aller Ruhe zu, was Philipp vorzubringen hat: Daß er den Mann zu einer Grillparty einlade, ihn und die Familie, die Tochter.
— Sie ist doch Ihre Tochter? fragt Philipp und spürt, daß seine Ohren glühen.
— Ja, antwortet der Nachbar in hölzernem Ton und schaut Philipp ohne große Neugier an, ob dieser noch etwas mitzuteilen hat.
Da Philipp nichts Besseres einfällt, fügt er hinzu:
— Ich habe sie kennengelernt. Sie erwartet Zwillinge.
Der Mann nickt, aber so, als würde er eigentlich lieber den Kopf schütteln, was er nur aus Höflichkeit unterläßt. Spätestens jetzt ist auch für Philipp nicht mehr zu leugnen, daß das Gespräch die Grenze zur Peinlichkeit überschritten hat.
— Würde mich sehr freuen, wenn Sie kämen, sagt er rasch und meint es in dem Moment auch so. Und ob er Kirschen wolle, er habe jede Menge Kirschen. Nein, er habe eigene, sagt der Mann und deutet auf einen Baum hinter ihm, der voller Früchte hängt.
Der Mann entfernt sich Richtung Haus. Präziser: Er läßt Philipp stehen.
Der seinerseits geht zum Vorplatz zurück, wo Atamanov in der Glut des Grills stochert und Steinwald bei den lachenden Dachdeckern steht und zuschaut, wie die von Philipp gefällte Fichte am Dachfirst befestigt wird. Philipp freut sich, daß die Dachdecker so guter Laune sind.
Einer ruft:
— Der Hut steht dem Baum ohnehin besser als dir, für deinen Schädel ist er zu klein.
Erst in dem Moment begreift Philipp, daß Steinwalds Hut über den Terminaltrieb des Baumes gestülpt ist und auf diese Weise das Hausdach krönt. Steinwald protestiert nicht, lacht auch zaghaft. Aber die Ringe um seine Augen sind plötzlich sichtbarer als sonst, seine Mundwinkel sind etwas herabgezogen und die Schultern zurückgeschmissen. Er weiß offensichtlich nicht, wie er sich verhalten soll. Ein wenig ist es, als schäme er sich des Abdrucks in seinem fettigen Haar, der zeigt, wo der Hut gesessen ist. Er reibt sich wiederholt den Kopf. Einer der Dachdecker beobachtet ihn dabei und sagt zur prompten Bestätigung des Sprichworts vom Schaden und dem Spott:
— Paß bloß auf, daß du keine Phantomschmerzen bekommst.
Steinwald schmäht den Dachdecker und einen dicht neben dem Mann stehenden Lehrling mit einigen hinter den Zähnen gemurmelten Schimpfwörtern. Er spuckt aus. Gleichzeitig wird der Arm des Krans eingefahren. Weiterhin lachend kommen die Dachdecker zum Grill, um zu sehen, was es zu essen gibt.