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Sie nehmen sich die ersten Würstchen, öffnen sich schnell mit Hilfe ihrer Feuerzeuge Bier, lecken die Tropfen vom Flaschenhals, springen in den Kranlastwagen und fahren davon, noch ehe die nächsten Gäste eingetroffen sind. Philipp wartet gemeinsam mit Steinwald und Atamanov, ohne viel zu reden (wie meistens) oder besser, Steinwald und Atamanov reden anfallsweise. Philipp hingegen ist nicht nach Reden, weil er Angst hat, daß mit dem Reden etwas kommt, das ihm sagt, wie schlimm es wirklich steht. Es wird allmählich diesig. Ein paar Dämmerungsstrahlen über dem Wienerwald, wo einige Wolken das Licht über dem Horizont auffächern. Dann treten Frau Puwein und Herr Prikopa durch das Tor der Einfahrt und überreichen Philipp eine Flasche Wein, die in Geschenkpapier eingepackt ist, Strohblumenköpfe auf blauem Grund. Philipp könnte sich nichts annähernd so Trostloses ausdenken wie eine Flasche Wein in Geschenkpapier mit einer goldenen Schleife um den Hals. Jetzt, jetzt so richtig, spürt er, wie erbärmlich alles ist, und wenn nicht alles, dann doch so viel, daß der Rest nicht weniger erbärmlich dasteht als das übrige. Er ist nahe daran, die Flasche gegen das Podest zu schmettern und sich mit Flüchen von seiner eigenen Feier zu verabschieden: Nur weg, unter die Bettdecke, ins Kopfkissen beißen. Manchmal tut es einfach gut, ins Kopfkissen zu beißen. Doch da er nicht einmal dazu den Mut aufbringt, wartet er noch eine Stunde, bis ein paar Sterne zu sehen sind. Dann zieht er seine Zigarette ordentlich in Brand und zündet in der Hoffnung, dem Abend auf diese Weise eine andere Richtung geben zu können, sämtliche Raketen, die er geliefert bekommen hat. Sie steigen pfeifend hoch, explodieren mit lautem Knall und werfen farbiges Licht über den Garten, über das Haus, über die Fichte mit Steinwalds Hut, über seine Nachbarn.

Die Stimmung bleibt dieselbe.

Steinwald ist unverändert schlechter Laune, die er in seiner eckigen Art mit entsprechend großem Talent demonstriert. Trübselig, kopfschüttelnd, mit sauertöpfischer Miene wirft er Fleisch und Paprikahälften auf den Grill und sieht sich ständig nach Stellen um, wo er noch nicht hingespuckt hat. Wenn Philipp Steinwalds Blick sucht, mustert ihn der verdrossen, ohne zu verhehlen, daß Philipp eine aufs Maul riskiert, sollte es ihm einfallen, etwas Falsches zu sagen. Als Philipp von Steinwald wissen will, woher der seinen Anzug habe — einen allzu weiten und beigen Anzug mit großen Brusttaschen, der Philipp an asiatische Diktatoren erinnert —, murmelt Steinwald unverständliche Worte, die er auf Nachfrage nicht zu wiederholen bereit ist, weshalb Philipp sich den Sinn zusammenreimen muß (Philipps Mutter soll oft gesagt haben: Man kann nur die Faust machen und still sein). Selbst Frau Puwein gegenüber, mit der sich Steinwald beim letzten Mal so gut unterhalten hat, neigt Steinwald zur Kürze, und zwar mit solchem Nachdruck, daß Frau Puwein den Versuch, Steinwald aus seiner Verschanzung zu locken, bald aufgibt. Sie wendet sich Philipp zu und erzählt (ob er es wissen will oder nicht — er will es nicht, weil ihm diese Kleinigkeiten vor Augen halten, wie wenig er weiß, wie wenig er bekommen hat, wie viel er bräuchte, nach wie vor braucht und weiterhin nicht bekommt): Von Alma Sterk, seiner Großmutter, die ihren Enkeln nie einen Vorwurf gemacht habe, daß sie sich nicht blicken ließen, und von Ingrid Sterk, seiner Mutter, als diese noch ein Kind war, bildhübsch, und wie schade, daß Ingrid so jung gestorben sei, und daß die Frage, weshalb Ingrid nicht einfach aus dem Armreif geschlüpft ist, sich nie geklärt habe (no na).

Philipp tut sein möglichstes, Frau Puweins Mitteilungsbedürfnis zu zügeln. Sie ist grausam ausführlich in ihren Erinnerungen. Während sich in ihrem Gehirn die verschiedensten Zusammenhänge und nur selten Spuren der Verflüchtigung finden, überlegt Philipp, warum er diese gattungsmäßig typischen, eher durchschnittlich anmutenden Kindheitsepisoden nicht hören will und warum sie ihm beliebig vorkommen, zufällig, irgendwie beschämend. Frau Puwein berichtet weitschweifig, wie Ingrid sich als Elfjährige zum Ziel gesetzt habe, die komplette Besetzung des Schönbrunner Tiergartens aus Kastanien und Zahnstochern nachzubilden, und weiter, daß sie, Ingrid, zu dieser Zeit bis über beide Ohren in ihren, Frau Puweins, Sohn Manfred verliebt gewesen sei, den Fredl.

— Sie hat ihm Liebesbriefe geschrieben. Der Fredl sagt, einen der Briefe besitze er noch.

Das geht Philipp endgültig zu weit. Ehe Frau Puwein sich in weiteren Details ergehen kann, nutzt er die von einem sentimentalen Erinnerungslachen Frau Puweins markierte Unterbrechung, um das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken. Konkret: Er erkundigt sich nach der Ganggenauigkeit der Pendeluhr, die er Frau Puwein überlassen hat.

Frau Puwein, so kommt es ihm vor, glaubt, er wolle die Uhr zurückfordern. Sie gibt ausweichende Antworten, das spiele keine Rolle, ein paar Minuten vor oder zurück, mehr oder weniger, früher oder später, was mache das schon. Gleich darauf verabschiedet sie sich höflich unter dringendem Hinweis auf das Wetter, das schlecht zu werden drohe. Tatsächlich fahren einige schwere Wolken heran.

— Machen Sie sich keine Sorgen, das zieht trocken vorüber, sagt Philipp.

Frau Puwein und Herr Prikopa argumentieren mit Gründen, die bis zum Ende der Woche ausreichen würden, um sich als entschuldigt zu betrachten. Sie haken sich einer beim andern ein, streben schlurfend, ohne sich ein einziges Mal umzusehen, dem Ende der Auffahrt zu und verschwinden durch das Tor und hinter der Mauer.

Philipp bleibt mit Steinwald und Atamanov allein. Da stehen sie: eins, zwo, drei. Und Philipp denkt, so sehen keine intakten Persönlichkeiten aus. Man muß nur genau hinsehen, dann sieht man, das ist keine Unabhängigkeitserklärung, das ist nicht die Rettung von drei Leben, das ist ein Fiasko, das sind drei traurige Gestalten mit der grundlosen Hoffnung, daß es Hoffnung gibt, in der schmerzhaften Erkenntnis, daß nichts geblieben ist, wie es war, und auch nichts bleiben soll, wie es ist.

— Nehmt ihr mich mit? Wenn ihr übermorgen fahrt? fragt Philipp im vagen Gefühl, daß die Gelegenheit jetzt, bei allem Stolz und bei aller Scham, die er empfindet, halbwegs erträglich ist. Gleich wird es anfangen zu regnen, ganz so, wie Johanna es vorhergesagt hat. Die Sterne, nach denen sich die Schiffe richten, sind vom Himmel entfernt. Wind kommt auf, die Brise, die alles verändern kann. Es blitzt schon. Glutfäden stürzen, sich verästelnd, aus den Wolken, deren Bäuche gelbe Falten zeigen. Sekunden später fällt das Donnergrollen wie ein Haufen Steine in den Nachbarsgarten, und in Philipps Garten vibriert das Grollen im Boden nach.

Steinwald schaut Atamanov an, sie wechseln ein paar Worte, die Philipp nicht versteht. Philipp stürzt ohne jeden Halt in eine Leere, die nichts Erleichterndes hat. Er fühlt sich einsam, und sowenig er es zugeben kann: er ist es auch. Ein Autoscheinwerfer kriecht in der Einfahrt vorbei. Philipp schaut in diese Richtung. Schon ist auch vom Geräusch des Wagens nichts mehr zu hören. Die Dunkelheit zieht sich wieder zusammen, ist jetzt dichter als zuvor. Steinwald und Atamanov beratschlagen sich noch immer. Philipp steckt die Hände in die Hosentaschen, um gewappnet zu sein. Die beiden nicken einander zu. Für eine Sekunde glaubt Philipp, den Anlaß, weshalb Steinwald und Atamanov nicken könnten, bereits wieder vergessen zu haben. Sie nicken und drucksen heraus:

— Oh, wir wußten nicht, ja, ja, natürlich, wir hätten nicht gedacht.

— Heißt das ja?

— Ja.

Er würde mitfahren können, wahrhaftig. Und obwohl er sich aufdrängen mußte, um diese Gunst zu erringen, freut er sich oder ist zumindest froh, sei’s, weil er statt Gehilfen Gefährten haben, sei’s, weil er für einige Tage dazugehören wird, was er schon seit einiger Zeit nicht mehr empfunden hat. Zwar spürt er auch die Unsicherheit, in die er sich begibt und von der da draußen, in anderen Wetterlagen, wahrscheinlich mehr auf ihn wartet, als er sich vorstellen kann (und seine Vorstellung reicht weit, schon von Berufs wegen). Trotzdem würde er am liebsten unverzüglich ins Haus laufen und mit dem Packen beginnen: Reisepaß, ein Zwischenstecker, Augentropfen, gute Medikamente gegen Durchfall, gegen Alkoholintoxikation — er muß Johanna anrufen, ob sie Empfehlungen hat.