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Ja, sicher, mein Lieber: Einen Reisenden soll man nicht aufhalten.

Danke.

Steinwald schlägt die rechte Faust in die offene Linke und verkündet, daß er seinen Hut vom Dach holen müsse, trotz des heraufziehenden Wetters, trotz der Finsternis dieser gärenden Sommernacht. Trotz des staubigen Blaus, das der Vorplatz den Blitzen zurückwirft. Wind kommt auf. In wenigen Stunden, noch vor Morgengrauen, so Steinwald, werde sich der Hut in Böhmen befinden (und wenn nicht in Böhmen, dann bei den Nachbarn, die zu der Feier nicht erschienen sind). Steinwald schleppt mit Atamanovs Hilfe die längste Leiter herbei, die hinter der Garage zu finden ist. Aber die Leiter reicht nur bis knapp unter die Dachrinne. Steinwald knirscht mit den Zähnen. Philipp merkt, daß Steinwald sich nicht so leicht geschlagen geben will. Also regt er an, die Leiter in den Kofferraum des Mercedes zu stellen, in den Kofferraum des Mercedes, in dem er bald mitfahren wird, übermorgen schon.

— So kann die Leiter um den fehlenden halben Meter verlängert werden, außerdem hat die Leiter im Kofferraum mehr Halt.

Steinwald schaut Philipp erstaunt von der Seite an, aha, soll das heißen, so dumm, wie ich gedacht habe, ist der Mensch ja gar nicht. Er lobt Philipps Sinn für das Praktische. Philipp freut sich mit großen, glänzenden Augen. Steinwald parkiert den Wagen um, steckt sich die Hosen in die Socken, hängt die Jacke über die offene Wagentür. Dann steigt er mit großer Behendigkeit die Leiter hoch. Und Philipp hinterher. Einfach drauflos. Aus so vielen Gründen, von denen einer den andern so unklar macht, daß Philipp am Ende nicht weiß weshalb. Er arbeitet sich von Schneehaken zu Schneehaken, er will bis ganz hinauf, soviel steht fest, er will bis hinauf zum Giebel und und — die unter ihm wankende Stadt gründlich auspfeifen!

Aber dann sitzt er rittlings über dem frisch reparierten First und freut sich nur, verblüfft über den Wirrwarr, in dem er sich befindet, höchst erstaunt über eine ängstliche, ihn gleichzeitig beschämende Glücksempfindung, die ihn nach links und rechts blicken läßt, verwirrt von den dunklen, übereinander- und hintereinandergeschichteten Dächern der Nachbarhäuser, angezogen von den Lichtern der Stadt und von Steinwalds Gesicht.

Steinwald sitzt ihm gegenüber, den Hut hat er kurz inspiziert und ausgeklopft. Jetzt trägt er ihn wieder am Kopf, eine Hand an der Krempe, vornübergebeugt, so daß ihm der Wind den Hut auf die Ohren drückt, statt ihn von dort wegzublasen. Steinwalds Traurigkeit ist verflogen. Er mustert Philipp, wie dieser ihn. Philipp scheint es, Steinwald ist zufrieden. Die Hochzeitsmusik spielt, sie flattert vom Wind zerfetzt durch den Garten und über dem Garten, den Philipp jetzt gut überschauen kann. Beim Podest des Schutzengels, wo das Feuer zweier Fackeln zuckt, übt Atamanov mit sauberen Bewegungen einige Tanzschritte, er singt dazu. Seine Stimme ist am Dach nur selten und in Bruchstücken zu hören, weil die Töne in alle Richtungen zerstieben. Die ersten Tropfen fallen und verdichten sich rasch. Der Wind läßt kurzfristig nach, frischt gleich wieder auf, wird kräftiger als zuvor. Philipps T-Shirt flattert an der Brust. Aber er sitzt fest im Sattel. Er drückt die Beine an das Hausdach, reckt seine Zwei-Hüftumschwung-Arme in die Höhe und schaut in die Wolken, die vorüberziehen.

Gleich wird Philipp auf dem Giebel seines Großelternhauses in die Welt hinausreiten, in diesen überraschend weitläufigen Parcours. Alle Vorbereitungen sind getroffen, die Karten studiert, alles abgebrochen, aufgeräumt, auseinandergezerrt, geschoben, gerückt, gerüstet. Er wird reisen mit seinen Gefährten, für die er ein Fremder ist und bleibt, gleich geht es dahin auf den wenig stabilen Straßen der ukrainischen Südsee, gleich geht es dahin durch Moraste und über Abgründe. Er wird von den Dieben verfolgt sein, die ihn schon sein Leben lang verfolgen. Aber diesmal wird er schneller sein. Er wird den Löwen und Drachen auf den Kopf treten, singen und schreien (schreien bestimmt) und ungemein lachen (ja? sicher?), den Regen trinken (schon möglich) und — und über — — über die Liebe nachdenken.

Er winkt zum Abschied.

Arno Geiger

Arno Geiger, 1968 in Bregenz geboren, lebt in Wien. Bei Hanser erschienen die Romane: Kleine Schule des Karusselfahrens (1997), Irrlichterloh (1999), Schöne Freunde (2002), Es geht uns gut (2005), Erzählband Anna nicht vergessen (2007) und zuletzt der Roman Alles über Sally (2010). Für sein Werk erhielt er unter anderem den Friedrich Hölderlin-Förderpreis (2005), den Deutschen Buchpreis (2005) und den Johann Peter Hebel-Preis (2008).

Auszeichnungen

2012 Anton-Wildgans-Preis der Österreichischen Industrie

2011 Friedrich Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg

2011 Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung

2011 Die zweite Realität

2011 Ehrenpreis des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbands

2011 Johann Beer-Literaturpreis der Deutschen Bank und der Ärztekammer für Oberösterreich

2010 Literaturpreis der Vorarlberger Buch- und Medienwirtschaft

2008 Johann-Peter-Hebel-Preis

2005 Deutscher Buchpreis

2005 Förderpreis zum Friedrich-Hölderlin-Preis Homburg

2001 Carl-Mayer-Drehbuchförderpreis

1999 Literaturstipendium

1998 Abraham-Woursell-Award

1994 Nachwuchsstipendium des österreichischen Bundesministeriums für Kunst

Bibliographie

Im Carl Hanser Verlag sind erschienen

1997 Kleine Schule des Karussellfahrens. Roman

1999 Irrlichterloh. Roman

2002 Schöne Freunde. Roman

2005 Es geht uns gut. Roman

2007 Anna nicht vergessen. Erzählungen

2010 Alles über Sally. Roman

2011 Der alte König in seinem Exil

Im Deuticke Verlag ist erschienen

2001 Alles auf Band oder Die Elfenkinder. Drama (gemeinsam mit Heiner Link