— Bei uns in Meidling im Bereich der Tivoligasse gab es viele Gassenkinder, für die war der Spritzwagen eine willkommene Abwechslung vom Diabolo und Tempelhupfen.
(Die Namen dieser Kinder, die Alma einmal wußte, sind vergessen. Ihre Vorstadtakzente haben sich abgeschliffen wie Steine in einem Gletscher. Das Knarren der längst verfaulten Fässer, das Wiehern der Pferde und der Nachhall der nackten Kinderfüße auf dem Boden geistern noch, jedes Geräusch isoliert in einem eigenen Gedanken, durch die allmählich austrocknenden Gehirne, Erinnerungsstaub, der sich zurück in die Substanz der Ereignisse setzt, weil weder Luft noch Zeit ihn allzulange tragen.)
— Bei uns in Hietzing gab es keine Gassenkinder, mutmaßt Richard.
(Peter war bestimmt so ein Gassenkind, ein Gassenläufer, wenn auch späteren Jahrgangs, denkt Alma.)
— Und auch Bloßfüßige bekommt man seit Jahren nicht mehr zu sehen.
(Er schaut kurz in sich hinein, schließt einen Moment lang erschöpft die Augen, fügt dann hinzu:)
— Wie sind wir jetzt eigentlich auf das gekommen?
(Ende des Gesprächs.)
Bereits ein Viertel der argentinischen Luftwaffe soll zerstört sein. Die eiserne Maggie treibt ihre Jungs zur Eile an. Von britischer Kommandoseite wird in Aussicht gestellt, daß die Rückeroberung der Inseln eher in Tagen als in Wochen beendet sein werde. Argentinien verkündet indessen die unmittelbar bevorstehende Niederlage der britischen Landetruppen. Bisher mehr als 450 Tote. Queen zittert um Prinz Andrew. Bundespräsident Kirchschläger beginnt seinen Staatsbesuch in Moskau. Kirchschläger in einem Interview gegenüber der» Prawda«: Zwischen Moskau und Wien herrscht Vertrauen. Der seit 1955 eingeschlagene Weg ist der richtige. Die Politik der Neutralität muß sich gerade in einer Zeit internationaler Spannungen bewähren. Mit Sprengstoff vollgepacktes Bombenauto zerreißt in Beirut 14 Menschen. Zitat des Tages: Heldentod ist der traurige Zufall eines Granatsplitters. Hat Karl Kraus im 1. Weltkrieg geschrieben. Neuer Sieg für Khomeinis Truppen. Saddam Hussein würde Kriegseintritt Ägyptens auf seiten des Iraks begrüßen. Personalwechsel im ZK. Juri Andropow wurde Montag zum ZK-Sekretär gewählt. In der mehrheitlich von Albanern bewohnten jugoslawischen Provinz ist es — wie erst jetzt bekannt wird — wieder zu Unruhen gekommen. Es wurde für eine eigene Republik Kosovo demonstriert. Bund schießt für Pensionen 18,4 Mrd. Schilling zu. Spitalskosten die große Belastung für 1982. Tragisches Ende der österreichischen Himalaja-Expedition am Cho-Oyo. Vorschau: Allgemein sonniges Wetter. Ab Wochenmitte im Westen und Südwesten lokale Gewitter. Winde zunächst aus Nordwest, später auf Südwest drehend. Höchsttemperaturen bis 21 Grad.
Nachdem sie sich beide richtig vollgegessen haben, zieht Richard sich in den Keller zurück, um sinn- und zwecklos die dort eingelagerten Vorräte mit neuen Etiketten zu versehen. Nebenher nascht er für gewöhnlich löffelweise Honig, aber das macht nichts (es heißt, Gelee Royal sei gut fürs Gehirn). Alma räumt das schmutzige Geschirr in den Spüler. Ehe sie die Arbeiten wiederaufnimmt, die sie am Vormittag nicht beenden konnte, spielt sie ein wenig auf der Querflöte. Sie ist gerade bei einem Stück von Bach, eine in F-dur gesetzte Triosonate, als Richard im Garten laut ihren Namen ruft.
Es klingt nicht nach schwerem Alarm. Alma glaubt die sonderbare Freude herauszuhören, die man empfindet, wenn es eine spannende und doch harmlose Neuigkeit mitzuteilen gibt. Sie unterbricht das Stück, wischt das Mundstück der Querflöte mit der Handinnenfläche ab, legt die Flöte auf den Steg des Notenständers und beugt sich aus dem offenstehenden Fenster.
— Was gibt es? fragt sie.
Aber da sieht sie bereits, daß einer der Stöcke beim Bienenhaus zu schwärmen begonnen hat.
— Sie ziehen aus, ruft Richard.
In einem Sicherheitsabstand von zehn Metern ist er unter dem Kirschbaum postiert. In der rechten Hand hält er eine Zigarette, deren Glut zum Körper zeigt. Er blickt kopfnickend, zufrieden zwischen dem sich bildenden Schwarm und Alma hin und her. Alma stößt sich ungestüm vom Fenster weg, läuft in Hausschuhen über die Veranda nach draußen und stolpert beinahe über die vier Stufen hinunter in den Garten. Sie bleibt stehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Sie sieht, daß sich der Schwarm im Wipfel des alten Zwetschgenbaums niederlassen will, wo sie ihn nur schwer einfangen könnte, mit der langen Leiter vielleicht, mit etwas Glück.
Sie ruft:
— Bleib weg, Richard, du kannst mir ja doch nicht helfen.
Gleichzeitig wendet sie sich zum Wasserhahn unter der Veranda. So schnell sie kann, koppelt sie den Gartenschlauch an in der Absicht, die Bienen anzuspritzen, das hat sich schon einige Male bewährt. Diesmal wird sie selbst naß. Beim Aufdrehen des Wassers vergißt sie, daß sie nur drehen, aber nicht ziehen darf, weshalb der Verschlußhahn aus dem Gewinde geschleudert wird. Das Wasser schießt in senkrechtem Schwall aus dem Rohr in die Höhe und auf Almas Oberkleid. Rasch hält sie das Rohr mit der rechten Hand zu, und der größte Schwall zischt abermals auf ihren Körper. Doch mit der Linken kann sie durch Zusammendrücken des Schlauchs ausreichend Druck erzeugen, daß das Wasser im abfallenden Bogen die Krone des Zwetschgenbaums erreicht. Der Schwarm schwenkt irritiert in einer fahnenartigen Wellenbewegung zur Seite, unentschlossen nach rechts zwischen die Bäume. Richard macht einige Schritte in Almas Richtung, vielleicht, um ihr mit dem Hahn behilflich zu sein.
— Bleib weg, ruft sie wieder.
Da verzieht er sich zu der Schutzengelskulptur beim Gemüsegarten und schneuzt in ein Stofftaschentuch, daß es durch den ganzen Garten schallt. Über das Taschentuch hinweg beäugt er den weiteren Fortgang der Ereignisse.
Alma nimmt sich Zeit, zu schauen, wohin der Hahn geschleudert wurde. Er liegt zu ihren Füßen. Sie schnappt ihn sich, und beim Einsenken ins Rohr folgt das dritte Bad. Sie blickt nach den Bienen, die gedrängt in den Wipfel des Kirschbaums strömen. Dort könnte Alma sie noch weniger erwischen als im Zwetschgenbaum. Sie setzt die Bienen einem neuerlichen Platzregen aus. Die Bienen vollführen eine abrupte Auf- und Ab-Bewegung, verharren für einen Moment in wütendem Gewimmel, ehe sie über die Gartenmauer flüchten, die das Grundstück gegen alle Seiten abschließt, ins mildere Klima bei den Wessely-Nachbarn. Atemlos vor Erregung folgt Alma dem Schwarm. Von einem der ausrangierten Verandastühle, die zu diesem Zweck entlang der Mauer aufgestellt sind, sieht sie zu, wie der Schwarm sich in einem alten Quittenbaum niederläßt, in gut erreichbarer Höhe.
Alma ruft:
— Fritz! Susanne!
Sie wiederholt ihr Rufen, bis Fritz sich an einem der Fenster zeigt mit blitzender Nickelbrille. Alma gibt Bescheid. Sie holt die Schwarmkiste aus der Werkstatt, sie eilt zur Straße vor, wo Fritz bereits beim Gartentor wartet. Wie meistens um diese Tageszeit ist er schon leicht illuminiert. Er bringt seinen unverzichtbaren Handkuß an.
— Wenn du nicht hinken würdest, könnte man dich mit Bo Derek verwechseln.
Alma kennt keine Bo Derek. Vermutlich eine Halbprominente. Aber sie kann sich vorstellen, daß die Anspielung mit ihren triefenden Haaren zu tun hat und ein Kompliment sein soll, wenn auch bestimmt keines, das den Gepflogenheiten des diplomatischen Dienstes entspricht.
— Mach mir jetzt nicht den Hof, das Leben ist auch so anstrengend genug.
— Ich sehe da keinen Zusammenhang. In welcher Welt lebst du?
— Ich?
— Du. Du hast schon richtig gehört.
Er blickt ihr vergnügt und offen in die Augen.
Vor zwanzig Jahren hätte sie das noch nervös gemacht, heute macht es sie nach wie vor nervös, aber es ist eine andere Nervosität, eher so, wie man auf die Uhr schaut, eher wie die Kameraführung dieser neuen Franzosen, die nicht mehr neu sind, es für Alma aber bleiben werden. Sie denkt, ich sollte Fritz und Susanne mal wieder zum Essen einladen, ist auch schon Monate her seit dem letzten Mal, keine Ahnung, ob das an Richard liegt, daß mir die Lust vergangen ist, und Kienasts lassen sich auch immer seltener blicken, seit die Gespräche so quer gehen, dito mit Grubers, dasselbe in Grün, auf Dauer ist das allen zu blöd. Recht haben sie.