Das Farnkraut bewegte sich, Anka trat auf den Pfad heraus. Auf der Wange hatte sie einen Kratzer, und ihre Knie waren mit Erde und Flechtenschaum verschmiert.
»Es ist Zeit, daß wir ihn in den Sumpf werfen«, erklärte sie. »Wenn sich der Feind nicht ergibt, wird er vernichtet.« Paschka ließ die Hände sinken.
»Du hältst dich überhaupt nicht an die Spielregeln«, sagte er zu Anton. »Bei dir kommt immer heraus, daß die Hexe ein guter Mensch ist.«
»Was weißt denn du schon!« sagte Anton und trat auch auf den Pfad heraus. »Der Wald kennt keine Gnade, du schmutziger Söldner.«
Anka gab Paschka sein Gewehr zurück.
»Schießt ihr zwei immer so scharf aufeinander?« fragte sie neiderfüllt.
»Na was denn sonst!« wunderte sich Paschka. »Sollen wir vielleicht schreien krach, krach! Piff, paff! – Was? Im Spiel muß immer ein Risiko dabei sein.« Anton sagte nachlässig:
»Wir spielen zum Beispiel häufig Wilhelm Tell.«
»Abwechselnd«, ereiferte sich Paschka. »Heute stelle ich mich mit dem Apfel auf dem Kopf hin, und morgen er.«
»So, so«, sagte sie gedehnt. »Ich würde da gern mal zuschauen.«
»Mit Vergnügen würden wir es dir gleich vorführen«, sagte Anton bissig. »Nur leider ist kein Apfel da!«
Paschka verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. Da riß ihm Anka seinen Piratenfes vom Kopf und drehte daraus rasch eine lange Tüte.
»Ein Apfel, das gilt nur bedingt«, sagte sie. »Das hier ist eine herrliche Zielscheibe. Spielen wir Wilhelm Tell!«
Anton nahm die rote Tüte und betrachtete sie aufmerksam. Er blickte auf Anka, ihre Augen waren wie dunkle Höhlen. Paschka tanzte herum, er fühlte sich großartig. Anton hielt ihm die Tüte hin.
»Aus dreißig Schritt Entfernung treffe ich eine Karte ins Herz«, sagte er mit flacher Stimme. »Mit einer Pistole, die ich gut kenne, natürlich.«
»Wirklich?« sagte Anka und wandte sich an Paschka: »Und du, mein Freund, triffst du eine Karte auf dreißig Schritt?«
»Einmal probieren wir es«, deklamierte er grinsend. »Zu meiner Zeit schoß ich nicht übel.«
Anton drehte sich um, ging den Pfad entlang und zählte laut: »Fünfzehn … sechzehn … siebzehn …«
Paschka sagte etwas, Anton verstand es nicht, und Anka lachte laut. Irgendwie viel zu laut. »Dreißig«, sagte Anton und drehte sich um.
Auf dreißig Schritt sah Paschka recht klein aus. Das rote Dreieck der Tüte ragte von seinem Kopf in die Höhe wie eine Narrenkappe. Paschka grinste. Er spielte noch immer. Anton beugte sich vor und spannte ohne Eile seinen Bogen.
»Ich segne dich, mein Vater Wilhelm!« schrie Paschka. »Und ich danke dir für alles, was immer auch geschehe!« Anton legte einen Bolzen ein und richtete sich auf. Paschka und Anka blickten auf ihn. Sie standen nebeneinander. Der Pfad lag da wie ein dunkler, feuchter Gang zwischen hohen grünen Mauern. Anton hob die Armbrust. Die Kampfausrüstung des Marschall Totz wurde mit einem Mal ungewöhnlich schwer. Meine Hände zittern, dachte Anton. Das ist schlecht. Ach, Quatsch. Er erinnerte sich, wie er letzten Winter zusammen mit Paschka eine ganze Stunde lang mit Schneebällen auf einen Eisenzapfen an einem Zaunpfahl gezielt hatte. Sie warfen von zwanzig Schritt Entfernung, von fünfzehn und dann von zehn – und hatten noch immer nicht getroffen. Und dann, als es ihnen schon langweilig war und sie am Weggehen waren, warf Paschka den letzten Schneeball, ohne zu zielen, und traf.
Anton drückte den Kolben mit aller Kraft gegen seine Schulter. Anka steht viel zu nahe, dachte er. Er wollte ihr schon zurufen, sie solle ein Stück weggehen, aber da fiel ihm ein, daß das dumm wäre. Höher. Noch höher … Höher … Er war plötzlich felsenfest davon überzeugt, daß der pfundschwere Bolzen, selbst wenn er ihnen den Rücken kehrte, sich in die Nasenwurzel Paschkas bohren würde, mitten zwischen die fröhlichen grünen Augen. Er öffnete die Augen und blickte auf Paschka. Paschkas Grinsen war verschwunden. Anka hob langsam, ganz langsam die Hand, mit gespreizten Fingern, und ihr Gesicht sah angespannt und sehr erwachsen aus. Da hob Anton seine Armbrust noch höher und drückte den Abzug. Er sah nicht, wohin der Pfeil geflogen war. »Daneben«, sagte er sehr laut.
Er ging weiter auf dem Pfad, aber seine Beine wollten nicht so recht gehorchen. Paschka fuhr sich mit der roten Tüte übers Gesicht, schüttelte sich ein wenig, nahm die Tüte auseinander und machte wieder seinen Fes daraus. Anka bückte sich und hob ihre Armbrust auf. Wenn sie mich damit auf den Kopf schlägt, dachte Anton, sage ich ihr dankeschön dafür. Aber Anka schaute ihn nicht einmal an.
Sie wandte sich zu Paschka und fragte: »Gehen wir?«
»Gleich«, sagte Paschka.
Er blickte auf Anton und tippte sich mit dem gekrümmten Finger gegen die Stirn.
»Und du hast doch Angst gehabt«, sagte Anton. Paschka tippte noch einmal mit dem Finger gegen die Stirn und folgte dann Anka. Anton schlenderte hinterher und versuchte, mit seinen Zweifeln fertigzuwerden.
Was habe ich denn eigentlich getan, dachte er. Der Kopf war ihm plötzlich sehr schwer. Wieso spielen sie die Beleidigten? Paschka, na schön, der hat Angst gehabt. Bloß ist noch nicht geklärt, wer sich mehr fürchtete: Tell-Papa oder Tell-Sohn. Aber was ist mit Anka los? Vielleicht hat sie Angst gehabt um Paschka. Aber was hätte ich denn tun sollen? Jetzt gehe ich hinter ihnen her wie ein Ausgestoßener. Ich kann ja fortlaufen. Gleich werde ich nach links abbiegen, dort ist ein schöner Tümpel. Vielleicht fange ich sogar eine Eule. – Aber er verlangsamte nicht einmal seinen Schritt. Das heißt also »für immer«, dachte er. Er hatte gelesen, daß das häufig vorkam.
Sie erreichten die Vergessene Straße sogar früher, als sie gedacht hatten. Die Sonne stand schon hoch, es war sehr heiß. Die Föhrennadeln stachen im Genick. Es war eine Betonstraße, und sie bestand aus zwei Reihen geborstener, rötlichgrauer Blöcke. In den Fugen wuchs ein dichtes, vertrocknetes Gras. Die Bankette zu beiden Seiten waren voll von staubigen Kletten. Über der Straße flogen dicke Schmeißfliegen mit Gebrumm dahin, und eine freche bumste Anton genau gegen die Stirn. Es war still und schwül. »Schaut!« sagte Paschka.
Über der Straßenmitte hing an einem rostigen, quergespannten Draht eine runde Eisentafel, von der die Farbe abgeblättert war. Mit Mühe war noch zu erkennen, daß es ein heller Querstrich auf rotem Hintergrund war.
»Was ist das?« fragte Anka ohne besonderes Interesse. »Ein Verkehrszeichen«, sagte Paschka. »Einfahrt verboten.«
»Negative Einbahn«, erläuterte Anton näher. »Wozu ist das gut?« fragte Anka.
»Das heißt, man darf dort nicht hineinfahren«, sagte Paschka. »Aber wozu ist dann eine Straße da?« Paschka zuckte mit den Schultern. »Das ist ein sehr alter Weg«, sagte er.
»Ein anisotroper Weg«, erklärte Anton. Anka stand mit dem Rücken zu ihm. »Der Verkehr geht nur in eine Richtung.«
»Wie weise waren doch unsere Vorfahren«, sagte Paschka nachdenklich. »Da fährst du so zweihundert Kilometer gemütlich dahin, und auf einmal – bumms! – Einfahrt verboten! Und du darfst nicht mehr weiterfahren, und fragen kann man auch niemanden.«
»Stellt euch nur vor, was da hinter diesem Verkehrszeichen alles sein kann!« sagte Anka. Sie blickte um sich. Ringsum war auf viele Kilometer nichts als menschenleerer Wald, und man konnte niemanden fragen, was da wohl hinter dem Verkehrszeichen lag. »Aber vielleicht ist es gar kein negatives Einbahnschild«, sagte Anka. »Die Farbe ist ja schon ganz abgeblättert …«
Da legte Anton an, zielte sorgfältig und schoß. Es wäre zu schön, wenn der Pfeil den Draht durchschlagen und das Verkehrsschild genau Anka vor die Füße fallen würde. Aber der Pfeil traf in die obere Hälfte des Schildes, durchschlug das rostige Eisen, und herunter rieselte nur vertrocknete Farbe.