»Esel!« sagte Anka, ohne sich umzudrehen.
Das war das erste Wort, mit dem sie ihn bedachte, nachdem sie Wilhelm Tell gespielt hatten. Anton lächelte schief. »And enterprises of great pitch and moment«, deklamierte er, »with this regard their current turn away and lose the name of action.«
Der treue Paschka schrie:
»Kinder, hier ist ein Auto gefahren! Nach dem Gewitter! Da ist das Gras noch niedergedrückt! Und hier …«
Paschka hat Glück, dachte Anton. Aufmerksam betrachtete er die Spuren auf der Straße. Auch er sah das zusammengedrückte Gras und einen schwarzen Streifen an jener Stelle, wo das Auto vor einem Schlagloch im Beton gebremst haben mußte. »Aha!« sagte Paschka. »Der ist von hinter dem Schild gekommen.« Das war ganz klar, aber Anton sagte: »Quatsch, er ist von der andern Seite gekommen!« Paschka schaute ihn mit erstaunten Augen an: »Was ist mit dir los? Bist du blind geworden?«
»Er ist von der andern Seite gekommen«, behauptete Anton hartnäckig. »Gehen wir der Spur nach.«
»Unsinn!« ereiferte sich Paschka. »Erstens fährt kein anständiger Fahrer gegen die Einbahn. Und zweitens, schau: hier ist das Schlagloch und dort die Bremsspur … Also, woher ist er gekommen?«
»Was gehen mich deine anständigen Fahrer an? Ich bin selber keiner von der Sorte, und ich geh jetzt in diese Richtung, gegen die Einbahn.«
Paschka wurde ganz weiß im Gesicht. »Geh, wohin du willst!« sagte er zornig. Er bekam einen leichten Schluckauf. »So ein Blödsinn. In der Hitze ist dir wohl das Hirn verraucht, was?« Anton drehte sich um, blickte gerade vor sich hin, bückte sich unter dem Verkehrsschild durch und ging davon. Er wünschte sich nur eines: auf eine eingefallene Brücke zu stoßen und sich auf die andere Seite hinüberarbeiten zu müssen. Was habe ich mit diesen Anständigen zu tun, dachte er. Sollen sie doch gehen, wohin sie wollen … Mit ihrem kleinen Paschka. Da fiel ihm ein, wie Anka Paschka das Wort abgeschnitten hatte, als er sie Anetschka genannt hatte, und es wurde ihm ein wenig leichter. Er blickte sich um.
Paschka entdeckte er gleich. Don Sarancha ging, vornübergebeugt wie ein Fährtenhund, der Spur des geheimnisvollen Autos nach. Die rostige Tafel über der Straße schaukelte leicht im Wind, und durch das Loch blitzte das Blau des Himmels. Anka saß am Bankett. Sie hatte ihre Ellbogen auf die nackten Knie gestützt, und ihr Kinn ruhte auf den kleinen geballten Fäusten.
Als sie zurückkehrten, dämmerte es schon. Die beiden Jungen ruderten, Anka saß am Steuer. Über dem dunklen Wald stand ein roter Mond, und unermüdlich quakten die Frösche. »Es war alles so schön geplant«, sagte Anka traurig. »Ach, ihr …!« Die Jungen schwiegen. Dann fragte Paschka mit gedämpfter Stimme:
»Toschka, was ist dort gewesen – hinter dem Einbahnzeichen?«
»Eine eingefallene Brücke«, antwortete Anton. »Und das Skelett eines Deutschen, mit Ketten an ein MG geschmiedet.« Er überlegte kurz und fügte dann hinzu: »Das MG ist schon halb in der Erde versunken …«
»Hmm, ja …«, sagte Paschka. »Das kommt vor. Und ich, ich hab dort hinten einem sein Auto reparieren geholfen.«
1
Als Rumata am Grab des heiligen Micky – dem siebten und letzten auf dieser Strecke – vorbeikam, war es schon ganz dunkel. Der vielgepriesene Chamacharische Hengst, den er Don Tameo beim Kartenspiel abgewonnen hatte, war in Wirklichkeit ein elender Klepper. Der Schweiß rann dem Tier in Strömen herab, es stolperte in einem fort, und sein unregelmäßiger Trab glich eher den Bewegungen eines schwankenden Schiffs. Rumata drückte ihm die Knie in die Flanken und schlug es mit den Handschuhen zwischen die Ohren. Aber das Pferd nickte nur müde mit dem Kopf, sein Gang wurde nicht schneller. Am Weg standen Büsche, die in der späten Dämmerung wie erstarrte Rauchwolken wirkten. In lästigen Schwärmen schwirrten die Mücken um den Kopf des Reiters. Am düsteren Himmel zitterten einzelne mattgelbe Sterne. In leichten, ungleichmäßigen Stößen blies ein abwechselnd warmer und kalter Wind, wie er an diesem Küstenstreifen mit seinen schwülen, staubigen Tagen und frostigkalten Nächten im Herbst immer anzutreffen ist.
Rumata hüllte sich dichter in seinen Mantel und ließ die Zügel los. Es hatte keinen Sinn, sich zu beeilen. Bis Mitternacht war noch eine ganze Stunde, und der Schluckaufwald trat schon am Horizont als schwarzgezähnter Saum hervor. Links und rechts vom Weg zogen sich unordentlich gepflügte Felder dahin, im fahlen Sternenlicht schimmerten Sümpfe, die nach Verwesung stanken, und hie und da tauchten die schaurigen Silhouetten von Hügeln mit halb vermoderten Pfahlzäunen aus der Zeit der Großen Invasion auf. Ganz in der Ferne züngelte der mürrisch flackernde Schein eines Feuers auf und nieder: Wahrscheinlich brannte dort ein Dorf, eines von den unzähligen gleichförmigen Elendsnestern, die bis vor kurzem Namen getragen hatten wie »Todesweiler«, »Galgenbühl« oder »Räuberschlupf«, auf kaiserlichen Befehl aber umbenannt wurden in »Blumenhain«, »Friedensgrund« und »Engelsdorf«. Über Hunderte von Meilen erstreckte sich dieses Land, von den Ufern der großen Bucht bis zum nichtgeheueren Schluckaufwald. Ein Land, überzogen von lästigen Mückenschwärmen, durchfurcht von Schluchten, halberstickt von Sümpfen, erschüttert von Fieberschauern und ständig bedroht von Seuchen und einer übelriechenden Art von Schnupfen.
An einer Wegkrümmung trat eine dunkle Figur aus den Büschen. Der Hengst fuhr zusammen und riß den Kopf hoch. Rumata ergriff rasch die Zügel, zupfte sich mit einer Handbewegung nach alter Gewohnheit die Spitzen seines rechten Ärmels zurecht und faßte auch schon nach seinem Schwert. Dann sah er genauer hin. Der Mann am Weg nahm seinen Hut ab.
»Guten Abend, edler Don«, sagte er leise. »Ich bitte um Verzeihung.«
»Was ist?« erkundigte sich Rumata. Er horchte angespannt ins Gestrüpp.
Es gibt eigentlich keinen lautlosen Hinterhalt. Die Räuber verrät das Singen ihrer Bogensehnen, die Männer der grauen Miliz rülpsen unaufhaltsam vom schlechten Bier, die Rotten der Barone grunzen vor Gier und rasseln mit den Säbeln, und die Mönche – auf ihrer Jagd nach Sklaven – kratzen sich in einem fort ganz laut. Im Gebüsch aber war es ruhig. Nein, dieser Mensch ist kein Heckenschütze, dachte Rumata. Er sah einem Heckenschützen auch ganz und gar nicht ähnlich: Es war ein kleiner, untersetzter Städter in einem nicht gerade teuren Überwurf.
»Erlaubt Ihr mir, neben Euch herzulaufen?« fragte er den Reiter und verbeugte sich dabei.
»Komm«, sagte Rumata und spielte mit den Zügeln. »Kannst dich am Steigbügel festhalten.«
Der Mann ging neben ihm her. Seinen Hut hielt er in der Hand, und auf seinem Kopf prangte eine ausgewachsene Glatze. Ein Gutsverwalter, dachte Rumata. Besucht Barone und Viehhändler, kauft Flachs und Hanf auf. Jedenfalls ein mutiger Verwalter … Vielleicht aber auch gar kein Verwalter. Vielleicht ein »Bücherwurm«. Ein Flüchtling. Eine gestrandete Existenz. Zur Zeit gibt es viele von dieser Sorte auf den nächtlichen Wegen, mehr als Gutsverwalter … Vielleicht ist er aber ein Spion. »Wer bist du und woher kommst du?« fragte Rumata. »Man nennt mich Kiun«, antwortete mit wehmütiger Stimme der Mann. »Und ich komme aus Arkanar.«
»Du flüchtest aus Arkanar«, sagte Rumata und neigte sich ein wenig zu ihm hinunter. »Ja«, antwortete der Mann traurig.
Irgendein Spinner, ein Sonderling, dachte Rumata. Oder doch ein Spion? Ich werde ihn im Auge behalten … Aber warum ihn eigentlich im Auge behalten? Wem ist schon damit gedient? Wer bin ich denn, daß ich ihn prüfen will? Ich will ihn gar nicht beobachten! Warum soll ich ihm nicht einfach glauben? Kommt ein Mann daher, ganz offensichtlich ein Intellektueller, auf der Flucht, es geht um sein Leben … Er fühlt sich einsam, hat Angst, er ist schwach, sucht eine schützende Hand … Da begegnet ihm ein Aristokrat. Aus Dummheit und Überheblichkeit kennen sich die Aristokraten in der Politik nicht aus, dafür haben sie überlange Säbel, und sie lieben die Grauen nicht. Warum sollte der Bürger Kiun nicht einfach Schutz suchen wollen bei einem dummen und überheblichen Aristokraten? Na also. Ich werde ihn natürlich nicht besonders im Auge behalten. Ich habe auch gar keinen Anlaß dazu. Plaudern wir ein wenig, schlagen wir die Zeit tot, und gehen wir als Freunde auseinander …