Er blickte um sich, aber da war kein überfüllter Saal, da gab es nur feuchte, bemooste Wände aus kahlen Stämmen, ganz schwarz vom Rauch der Öllampe.
Draußen wieherte leise der Chamacharische Hengst und scharrte mit den Hufen. Man hörte ein gleichmäßiges tiefes Pfeifen, so altvertraut, daß einem beinahe die Tränen kamen, und doch so unvermutet an diesem Platz. Rumata horchte angespannt und mit offenem Mund. Das Pfeifen hörte jäh auf, das kleine Flämmchen in der Öllampe fing an zu züngeln und flackerte plötzlich stark in die Höhe. Rumata wollte eben aufstehen, als auch schon aus der nächtlichen Dunkelheit Don Kondor ins Zimmer geschritten kam, der Oberste Richter und Staatssiegelbewahrer der Handelsrepublik Soan, Vizepräsident der Konferenz der zwölf Negotianten und Kavalier des kaiserlichen Ordens der rechten Barmherzigkeit. Rumata sprang auf und warf dabei die Bank um. Er hätte sich am liebsten in die Arme des Freundes geworfen und ihn auf beide Wangen geküßt, aber die Beine gingen (schön nach der Etikette) von selber in die Knie, seine Sporen klirrten feierlich, die rechte Hand beschrieb einen großen Halbkreis vom Herzen bis zur rechten Seite, und sein Kopf beugte sich so heftig, daß das Kinn beinahe in der Halsbinde verschwand. Don Kondor nahm die Samtmütze mit der einfachen Feder ab und winkte damit eilig, wie um die Mücken zu verscheuchen, zu Rumata hin. Dann warf er die Mütze auf den Tisch und knöpfte die Halsspange seines Reisemantels auf. Der Mantel glitt noch langsam über seinen Rücken, als er schon auf der Bank saß und die Füße ausstreckte. Die linke Hand hielt er auf die Hüfte gestützt, und mit der ausgestreckten Rechten hielt er den Griff seines vergoldeten Schwertes, das mit der Spitze im faulen Holz des Fußbodens steckte. Er war eher klein, hager, und in seinem blassen Gesicht saßen große, etwas hervorstechende Augen. Die schwarzen Haare waren, genau wie bei Rumata, von einem massiven Goldreif mit einem grünen Stein an der Stirn zusammengefaßt.
»Sind Sie allein, Don Rumata?« fragte er abgerissen. »Ja, edler Don«, antwortete Rumata bedrückt. Vater Kabani ließ sich plötzlich laut donnernd hören: »Edler Don Reba!… Eine Hyäne bist du, und das ist alles!…« Don Kondor schenkte ihm keine Beachtung. Er drehte sich nicht einmal um.
»Ich bin mit dem Hubschrauber hier«, sagte er. »Hoffen wir«, sagte Rumata, »daß keiner Sie gesehen hat.«
»Eine Legende mehr oder weniger …«, antwortete Don Kondor leicht gereizt. »Ich habe einfach keine Zeit, auf dem Pferd herumzureiten. Was ist mit Budach passiert? Wohin mag es ihn verschlagen haben? So setzen Sie sich doch, Don Rumata, ich bitte Sie. Mir tut das Genick weh.«
Rumata ließ sich gehorsam auf die Bank nieder. »Budach ist verschwunden«, sagte er. »Ich wartete auf ihn am Platz der Schweren Schwerter. Erschienen ist aber bloß ein einäugiger Vagabund, nannte die Parole und übergab mir einen Sack mit Büchern. Ich wartete noch zwei Stunden, dann setzte ich mich mit Don Hug in Verbindung, und dieser meldete, er habe Budach bis an die Grenze gebracht, und er werde außerdem von irgendeinem edlen Don begleitet, dem man ruhig vertrauen könne, weil er beim Kartenspiel alles verloren und sich Don Hug mit Leib und Seele verkauft habe. Folglich steckt Budach irgendwo hier in Arkanar. Das ist alles, was ich weiß.«
»Nicht sehr viel, was Sie wissen«, sagte Don Kondor. »Es geht aber gar nicht so sehr um Budach«, entgegnete Rumata. »Wenn er lebt, dann finde ich ihn und hole ihn aus dem Schlamassel raus. Das klappt schon, das kann ich hinkriegen. Aber nicht darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Was ich vorhabe, ist, Ihre Aufmerksamkeit noch einmal, wieder einmal, darauf zu lenken, daß die Lage in Arkanar die Grenzen der Basistheorie überschreitet …« Don Kondor verzog sein Gesicht zu einem sauren Lächeln. »Nein, nein, hören Sie mich zu Ende an«, sagte Rumata entschlossen. »Ich habe das Gefühl, daß ich mich Ihnen über Funk nie so recht verständlich machen kann. Und in Arkanar steht alles kopf! Es ist ein neuer, systematisch wirkender Faktor aufgetaucht. Es sieht so aus, als ob Don Reba mit voller Absicht die ganze niederdrückende Grauheit des Königtums auf die Gelehrten herabsausen läßt. Jeder, der sich nur ein wenig über das mittlere graue Niveau erhebt, schwebt in akuter Gefahr. Hören Sie, Don Kondor, das sind keine vagen Empfindungen, sondern Fakten! Wenn du gescheit bist oder gebildet, wenn du zu zweifeln wagst, irgendwas Ungewöhnliches sagst – vielleicht wenn du mal keinen Wein magst! –, droht dir schon Gefahr. Ein dahergelaufener Gemüsekrämer kann dich totschlagen. Hunderte, ja Tausende Menschen werden denunziert. Sie werden von den Sturmowiki gefangen, und man knüpft sie entlang den Straßen auf. Nackt, mit dem Kopf nach unten … Gestern haben sie einen Alten in meiner Straße zu Tode getrampelt mit ihren Stiefeln. Jemand hat ihnen gesagt, daß er lesen und schreiben kann. Zwei Stunden lang sollen sie ihn getreten haben, diese dumpfen Schweine mit den tierischen, schweißtriefenden Schnauzen« … – Rumata faßte sich und endete in ruhigem Ton: »Mit einem Wort, in Arkanar wird bald kein einziger kluger Kopf mehr übrigbleiben. Wie im Kreis des Heiligen Ordens nach der Schlächterei von Barkan.«
Don Kondor fixierte ihn mit seinen dunklen Augen und kniff die Lippen zusammen.
»Du gefällst mir nicht, Anton«, sagte er auf russisch. »Mir gefällt auch vieles nicht, Alexander Wassilewitsch«, sagte Rumata. »Mir gefällt zum Beispiel nicht, daß wir uns durch diese verteufelte Problemstellung an Händen und Füßen selbst gebunden haben. Mir gefällt es nicht, daß wir es das Problem des unblutigen Vorgehens nennen. Denn in meiner Lage entspricht das wissenschaftlich begründeter Tatenlosigkeit … Ich kenne alle Einwände! Und ich kenne auch unsere Theorie. Aber hier sind Theorien fehl am Platz, hier herrscht eine typisch faschistische Praxis, hier werden in jeder Minute Menschen von wilden Bestien angefallen! Hier geht alles zugrunde. Das Wissen reicht nicht aus, und das Gold verliert seinen Wert, weil es immer zu spät kommt.«
»Anton«, sagte Don Kondor, »reg dich nicht auf. Ich glaub dir, daß die Lage in Arkanar einen extrem heiklen Punkt erreicht hat, aber ich bin genauso davon überzeugt, daß auch du keinen einzigen konstruktiven Vorschlag zur Lösung hast.«
»Das ist wahr«, stimmte Rumata zu, »konstruktive Vorschläge habe ich nicht. Aber es fällt mir immer schwerer, mich zu beherrschen angesichts dieser fortschreitenden physischen und moralischen Korruption.«
»Anton«, sagte Don Kondor. »Wir sind hier zweihundertfünfzig auf dem ganzen Planeten. Alle haben sich schließlich fest in der Hand, und allen fällt es ebenfalls sehr schwer. Die Erfahrensten von uns leben hier schon zweiundzwanzig Jahre. Sie sind einzig und allein als Beobachter hergeflogen. Und es ist ihnen verboten, auf irgendeine Weise selbst einzugreifen. Stell dir das mal vor: Ein Pauschalverbot für jegliches Eingreifen. Wir hätten zum Beispiel nicht einmal das Recht besessen, Budach zu retten. Auch nicht, wenn man ihn vor unseren Augen zu Tode getrampelt hätte.«
»Du brauchst mit mir nicht wie mit einem Kind sprechen«, sagte Rumata.
»Du bist aber ungeduldig wie ein Kind«, entgegnete Don Kondor. »Und hier muß man sehr viel Geduld aufbringen.« Rumata lachte bitter.
»Und während wir hier warten«, sagte er, »endlos diskutieren und über die rechten Mittel beraten, überfallen diese Bestien täglich, ja jede Minute die Menschen.«
»Anton«, sagte Don Kondor, »im Weltall sind noch Tausende von Planeten, die wir noch nicht besucht haben und auf denen die Geschichte ihren Lauf nimmt.«
»Aber hierher sind wir doch gekommen!«
»Ja. Aber nicht, um hier unseren gerechten Zorn auszuschütten, sondern um dieser Menschheit zu helfen. Wenn du zu schwach bist, tritt ab! Kehr zurück, geh nach Hause! Schließlich bist du ja wirklich kein Kind mehr und wußtest, was dich hier erwartet.« Rumata schwieg. Don Kondors Gesichtszüge entspannten sich; er schien während seiner letzten Worte um Jahre gealtert zu sein. Ganz langsam schritt er den Tisch entlang, faßte sein Schwert, zog es wie einen Stock hinter sich her. Dann verfiel er in ein fast unmerkliches trauriges Nicken, so daß es schien, als bewegte sich nur seine Nase.