Mellon nach dem Sturz noch am Leben war; das geht sowohl aus Hagartys als auch aus Unwins Aussage hervor. Seine Klienten haben doch keinen Mord begangen, o nein! Es war ein Psychopath in Clownskostüm. Wenn wir diesen Kerl auch nur erwähnen, passiert das garantiert, und das weißt du genauso gut wie ich.«
»Unwin wird diese Geschichte ohnehin erzählen.«
»Aber Hagarty nicht«, erwiderte Boutillier. »Weil er begriffen hat. Und wer wird Unwin schon glauben, wenn Hagarty nichts darüber aussagt?«
»Na ja, wir wären ja auch noch da«, sagte Harold Gardener mit einer Verbitterung, die sogar ihn selbst erstaunte, »aber ich vermute, daß wir auch nichts darüber berichten werden.«
»Oh, du treibst mich noch zum Wahnsinn!« brüllte Boutillier und warf die Hände hoch. »Sie haben ihn ermordet! Sie haben ihn nicht nur von der Brücke in die Tiefe gestürzt - Garton hatte ein Messer bei sich. Mellon hatte Stichwunden, darunter eine in der linken Lunge und zwei in den Hoden. Die Wunden stammen eindeutig von dieser Klinge. Mellon hatte auch vier gebrochene Rippen - die hat Dubay ihm gebrochen, als er ihn umklammerte. Mellon hatte auch Bißwunden, okay, geb' ich zu. An den Armen, auf der linken Wange, am Hals. Ich nehme an, daß das Unwins und Gartons Werk war, obwohl wir nur einen ziemlich deutlichen Zahnabdruck haben, und selbst der ist höchstwahrscheinlich nicht deutlich genug, um vom Gericht als Beweis anerkannt zu werden. Und, okay, aus seiner rechten Achselhöhle war ein großes Stück Fleisch herausgerissen. Na und? Einer dieser Kerle hat eben wirklich gern zugebissen. Vermutlich hat er, während er das tat, sogar noch 'nen Steifen bekommen. Ich wette, daß es Garton war, obwohl wir's nie beweisen können. Und Mellons Ohrläppchen war auch nicht mehr da.«
Boutillier starrte Harold einen Moment lang schweigend an, dann fuhr er fort: »Wenn wir diese Clown-Geschichte ins Spiel bringen, werden wir sie nie des Mordes überführen können. Willst du das?«
»Nein, das hab' ich doch schon gesagt.«
»Mellon war schwul, aber er hat niemandem etwas zuleide getan«, sagte Boutillier. »Und plötzlich - heidi-heida, kommen da diese drei Pisser daher und pusten ihm das Lebenslicht aus. Ich werde dafür sorgen, daß sie hinter Schloß und Riegel kommen, mein Freund, und wenn ich höre, daß jemand in Thomaston seinen Schwanz in ihre runzligen kleinen Ärsche reinsteckt, dann werd' ich ihnen Karten schicken, auf denen steht, ich würde von Herzen wünschen, daß der Betreffende aids hat!«
Sehr feurig, dachte Gardener. Und die Verurteilungen werden sich auch in deinen Akten sehr gut machen, wenn du dich in zwei Jahren um die oberste Position bewirbst.
Aber er ging, ohne noch etwas zu sagen, denn auch er wollte, daß diese Burschen verurteilt würden.
John Webber Garton wurde wegen Mordes zu zehn bis zwanzig Jahren Haft im Thomaston State Prison verurteilt.
Steven Bishoff Dubay wurde wegen Mordes zu fünfzehn Jahren Haft im Shawshank State Prison verurteilt.
Christopher Philip Unwin wurde als Jugendlicher separat vor Gericht gestellt und wegen Totschlags zu sechs Monaten Aufenthalt in der South Windham Boys' Training Facility verurteilt. Das Urteil wurde zur Bewährung ausgesetzt.
Bis zu dieser Stunde wurde gegen alle drei Urteile Berufung eingelegt; man kann Garton und Dubay tagtäglich im Bassey Park Mädchen beobachten oder >Pennywerfen< spielen sehen, unweit der Stelle, an der Mellons verunstaltete Leiche an einem der Pfeiler der Main Street Bridge auf dem Wasser treibend gefunden worden war.
Don Hagarty und Chris Unwin haben die Stadt verlassen.
Bei der Hauptverhandlung gegen Garton und Dubay hatte niemand einen Clown erwähnt.
Drittes Kapitel
Sechs Telefonanrufe
1. Stanley Uris nimmt ein Bad
Später sagte Patricia Uris zu ihrer Mutter, sie hätte wissen müssen, daß etwas nicht stimmte, weil Stanley nie am frühen Abend ein Bad genommen hatte. Er duschte morgens und machte es sich manchmal spät abends in der Badewanne gemütlich (mit einer kalten Dose Bier und einer Zeitschrift), aber in all den vielen Jahren ihrer Ehe hatte er sich noch nie um 19 Uhr ein Bad eingelassen.
Und dann war da die Sache mit den Büchern gewesen. Eigentlich hätte es ihm Freude machen müssen; statt dessen schien es ihn auf eine ihr unverständliche Weise zu verwirren und zu deprimieren. Etwa drei Monate vor jenem schrecklichen Abend hatte Stanley entdeckt, daß ein Freund aus Kindertagen Schriftsteller geworden war. Er hieß William Denbrough, aber Stanley nannte ihn manchmal >Stotter-Bill<. Stanley hatte alle Bücher Den-broughs begierig verschlungen; im letzten hatte er noch am Abend des Bades gelesen - am 27. Mai 1985. Patty Uris hatte einmal aus Neugier in einen dieser Romane hineingeschaut, ihn aber nach nur drei Kapiteln wieder aus der Hand gelegt.
»Es war eine Horrorgeschichte«, erzählte sie später ihrer Mutter. »Voller Monster - Monster, die es besonders auf kleine Kinder abgesehen hatten... und voller Morde und... ich weiß nicht so recht, wie ich's ausdrücken soll... voll negativer Gefühle und Gewalt. All so was.« Irgendwie war der Roman ihr fast pornographisch vorgekommen, und er hatte sie beunruhigt und geängstigt; aber das erzählte sie ihrer Mutter nicht, weil ihr die richtigen Worte fehlten. »Aber Stan hatte das Gefühl, einen seiner Freunde aus der Kindheit wiedergefunden zu haben... er sprach davon, daß er ihm schreiben wolle, aber ich wußte, daß er es nicht tun würde... ich wußte, daß all diese Geschichten ihn irgendwie verstörten... und... und...«
Patty brach in Tränen aus.
An jenem Abend, etwa siebenundzwanzigeinhalb Jahre nach dem Tag, als George Denbrough Bekanntschaft mit einem gewissen Clown namens Pennywise gemacht hatte, saßen Stanley und Patty Uris im Wohnzimmer ihres Hauses in einem Vorort von Atlanta, Georgia. Der Fernseher war eingeschaltet, und Patty saß vor dem Bildschirm und teilte ihre Aufmerksamkeit zwischen ihrer Näharbeit und ihrem Lieblingsquiz >Family Feud<. Diese Sendung gefiel ihr deshalb so gut, weil sie meistens die richtigen Antworten wußte. Einmal hatte sie Stan gefragt (der ihr zwar erzählt hatte, daß William Denbrough in jenen längst vergangenen Kindertagen in Maine StotterBill genannt worden war, der ihr aber in all den vielen Jahren ihrer Ehe nie erzählte, daß er selbst damals den Spitznamen Stanley Urin gehabt hatte), weshalb man den Kandidaten so leichte Fragen stelle, und er hatte geantwortet: »Es ist vermutlich viel schwerer, wenn man da oben im Scheinwerferlicht steht und alle Kameras auf einen gerichtet sind. Alles ist sehr viel schwerer, wenn man selbst betroffen ist. Dann kann man sehr leicht das Gefühl haben zu ersticken. Wenn es einen direkt angeht.«
Seine Erklärung schien ihr sehr einleuchtend zu sein. Stan besaß manchmal erstaunliche Einsicht in die menschliche Natur. Viel schärfere, so dachte sie, als sein alter Freund William Denbrough, der reich geworden war, indem er Horrorgeschichten schrieb und die niederen Instinkte der Menschen ansprach.
Nicht daß es ihnen selbst schlecht gegangen wäre: ihr Vorort galt als vornehme Wohngegend, und das Haus, das sie 1979 für 87000 Dollar erworben hatten, würde sich inzwischen problemlos für etwa 165000 Dollar verkaufen lassen. Wenn sie manchmal in ihrem Volvo (Stanley fuhr einen Mercedes Diesel) vom Einkaufszentrum zurückkehrte und ihr geschmackvoll hinter niedrigen Eibenhecken liegendes Haus sah, überkam sie ein starkes Glücksgefühl, vermischt mit soviel bitterem Stolz, daß ihr etwas unbehaglich zumute war.
Einem achtzehnjährigen Mädchen namens Patricia Blum war einmal der Zutritt zur Schulabschlußparty verwehrt worden, die im Country Club jener Kleinstadt Glointon im Bundesstaat New York stattfand, wo Patricia aufgewachsen war - natürlich aufgrund ihres Familiennamens Blum, natürlich deshalb, weil sie Jüdin war. Das war 1967 gewesen, vor langer Zeit - nur würde es für einen Teil von ihr niemals lange zurückliegen; ein Teil von ihr würde immer wieder mit Michael Rosenblatt zum Auto seines Vaters zurückgehen, das er sich für jenen Abend ausgeliehen und am Nachmittag auf Hochglanz poliert hatte, Michael in seinem weißen Dinner-Jakkett - wie hatte es in jener milden Frühlingsnacht geleuchtet! - und sie selbst in einem hellgrünen Abendkleid, das die Farbe von Meerwasser an einem wolkenverhangenen Tag hatte... nur waren sie eben nicht zum Auto gegangen, nein sie waren geschlichen, und nie zuvor hatten sie die Bürde ihres Judentums so deutlich gespürt wie an jenem Abend; sie hatten das Gefühl gehabt, Pfandleiher oder Viehhändler zu sein, lange krumme Nasen und ein schleimiges Wesen zu haben, Itzgs, Shylocks -eben Juden zu sein. Sie waren nicht wütend gewesen, sie hatten sich nur geschämt; der Zorn war erst später gekommen, rasender, bohrender Zorn. Und dann hatte jemand gelacht. Es war ein hohes, schrilles, kicherndes Lachen gewesen, und im Auto hatte sie geweint, und als Michael ungeschickt versucht hatte, sie zu trösten, indem er ihr über den Nacken strich, hatte sie seine Hand weggestoßen - sie hatte sich geschämt, sich schmutzig gefühlt, sich jüdisch gefühlt.