Das so geschmackvoll hinter niedrigen Eibenhecken liegende Haus machte manches leichter... aber nicht hundertprozentig gut. Die Kränkung und die Scham waren immer noch vorhanden, und nicht einmal das Bewußtsein, in dieser friedlichen, wohlhabenden Umgebung akzeptiert zu sein, konnte die alte Wunde völlig heilen. Ebensowenig die Tatsache, daß sie Mitglieder im Country Club waren und daß der Geschäftsführer sie immer respektvoll mit »Guten Abend, Mr. und Mrs. Uris« begrüßte. Wenn sie in ihrem bequemen neuen Volvo nach Hause kam und ihr weißes Haus mit den schwarzen Fensterläden betrachtete, das sich inmitten des grünen Rasens hinter den niedrigen Eibenhecken so dekorativ ausmachte, hoffte sie, daß jenes Mädchen, das damals gelacht hatte, in irgendeiner beschissenen Bruchbude lebte, von seinem Ehemann geprügelt wurde, drei Fehlgeburten gehabt hatte; sie hoffte, daß der Ehemann dieses Mädchens es mit geschlechtskranken Frauen betrog, daß es eine Hängebrust, Plattfüße und Geschwüre auf der dreckig lachenden Zunge hatte.
Sie haßte sich selbst wegen dieser Gedanken, dieser lieblosen Gedanken, und manchmal wurde sie monatelang von ihnen verschont und dachte dann: Vielleicht liegt das alles jetzt hinter mir, ich bin eine Frau, eine 36jährige Frau, jenes Mädchen, das in seinem grünen Kleid im Auto von Michaels Vater saß und durch seine Tränen die Wimperntusche über die ganzen Wangen verschmierte, jenes Mädchen ist seit 18 Jahren tot, vielleicht kann ich es vergessen und nur noch ich selbst sein. Aber dann wieder brauchte sie nur irgendwo zu sein - beispielsweise im Supermarkt - und aus dem Nebengang plötzlich ein schrilles, kicherndes Lachen zu hören, und schon lief ihr ein Schauder den Rücken hinab, ihre Brustwarzen wurden hart und empfindlich und rieben sich an ihrem BH, und sie dachte unwillkürlich: Jemand hat gerade jemand anderem erzählt, daß ich Jüdin bin, daß ich ein Itzig und Shylock bin, daß auch Stanley ein Itzig und Shylock ist, du weißt ja, diese Juden, sie verstehen sich gut auf Zahlen, wir lassen sie in den Country Club, wir können nicht anders, wir mußten es erlauben, nachdem 1981 jener schlaue Itzig-Doktor seinen Prozeß gewann, aber wir lachen über sie, sobald sie uns den Rücken kehren, lachen wir über sie, wir lachen und lachen und...
Dann überwältigten Haß und Scham sie wieder wie ein entsetzlicher Migräneanfall der Seele, und sie verzweifelte an sich selbst und an der menschlichen Rasse. Werwölfe - das Buch von jenem Kerl Denbrough, das sie zu lesen versucht hatte, handelte von Werwölfen. Werwölfe! Was wußte ein solcher Mann schon von Horror?
Aber meistens ging es ihr viel besser. Sie liebte ihr Haus, sie liebte ihren Mann, und meistens war sie sogar imstande, ihr Leben und sich selbst zu lieben. Das war nicht immer so gewesen; als sie sich mit Stanley verlobt hatte, hatten ihre Eltern verzweifelt die Köpfe geschüttelt. Sie hatte ihn auf einer College-Party kennengelernt. Er war mit einigen Freunden von der New York State University hergekommen, wo er als Stipendiat studierte, und als der Abend zu Ende ging, glaubte sie, ihn zu lieben. Als es Winter wurde, war sie sich ihrer Gefühle ganz sicher. Und als Stanley ihr im Frühling einen schmalen Diamantring schenkte, nahm sie ihn an.
Ihre Eltern hatten sich mit ihrer Verlobung abgefunden, obwohl sie alles andere als glücklich darüber waren. Es blieb ihnen aber kaum etwas anderes übrig, obwohl Stanley Uris Marketing studierte und sich bald einer hoffnungslos flauen Arbeitsmarktlage stellen mußte, ohne daß seine Familie das nötige Kapital hatte, um ihm beim Eintritt in eine gefährliche Welt Rückhalt bieten zu können. Offenbar würde er diese Welt mit ihrer einzigen Tochter als Glückspfand betreten. Aber sie war 22 Jahre alt, eine Frau, die demnächst ihren Bachelor of Arts in Englisch machen würde - was konnten sie also sagen? Sie war eine erwachsene Frau. Das einzige, was sie tun konnten, war, die jungen Leute zu überreden, mit der Heirat zu warten, bis sie beide mit dem Studium fertig sein würden. Und außerdem Stanleys Eltern zum Abendessen einzuladen.
»Ich werde diesen Hundesohn für den Rest meines Lebens unterstützen müssen«, hatte Patty ihren Vater eines Abends gegen Ende der Frühjahrsferien sagen hören. Ihre Eltern waren an jenem Abend ausgegangen, und dabei hatte ihr Vater etwas zuviel getrunken.
»Psst, sie wird dich hören«, hatte Mary Blum gesagt.
Patricia hatte bis spät nach Mitternacht wachgelegen und sich in den folgenden zwei Jahren nach Kräften bemüht, ihren zahlreichen Haßgefühlen nicht auch noch den Haß auf ihren eigenen Vater hinzuzufügen. Diesen Kampf hatte sie gewonnen. Stanley hatte ihr dabei geholfen.
Seine Eltern waren über ihre Verlobung ebenso besorgt gewesen und hatten sie für überstürzt gehalten (obwohl sie selbst mit Anfang Zwanzig geheiratet hatten, waren sie anscheinend der Ansicht, daß nur eine Ehe zwischen Partnern Ende Vierzig nicht überstürzt war). Nur Stanley schien seiner selbst völlig sicher zu sein, sich keine Sorgen zu machen, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Und sein Selbstvertrauen hatte sich in jeder Hinsicht als berechtigt erwiesen. Im Juli 1972, als die Tinte auf ihrem Diplom noch nicht ganz trocken war, hatte sie eine Stelle als Englischlehrerin an der Junior High School in der Kleinstadt Traynor, 40 Meilen südlich von Atlanta, bekommen. Sie hatte auf ihre Anzeigen in Lehrerzeitschriften über 30 Anfragen erhalten, aus dem ganzen Land von Oregon und Idaho bis Rhode Island, und Stanley hatte auf den Brief des Schulrats von Traynor gedeutet.
»Das ist das richtige«, sagte er.
Sie schaute ihn an, bestürzt über die ruhige Sicherheit in seiner Stimme. »Kennst du Georgia?« fragte sie.
Stan schüttelte den Kopf. »Ich bin in Zentral-Maine aufgewachsen, mit 16 nach Massachusetts umgezogen und später hierher auf die Uni gekommen.« Das alles wußte sie natürlich schon. »Ich bin noch nie im Leben südlich der Mason-Dixon-Linie gewesen.« Er grinste.
»Aber warum dann...«
»Weil es richtig ist.«
»Das kannst du doch nicht wissen, Stanley.«
»Ich weiß es aber«, sagte er einfach, und unwillkürlich lief ihr ein Schauder des Unbehagens über den Rücken.
»Woher weißt du es?«
Sein Lächeln wurde etwas unsicher, und einen Augenblick lang schien er verwirrt zu sein. Seine Augen verschleierten sich, so als schaute er in sich hinein und zöge irgendeine innere Vorrichtung zurate, die zuverlässig funktionierte, die er aber letztlich selbst ebensowenig verstand wie der Durchschnittsmensch den Mechanismus seiner Armbanduhr.