Patty war an jenem Tag ohnehin niedergeschlagen. In ihrer neuen Umgebung noch nicht heimisch, hatte sie Heimweh nach Traynor. Nachdem sie den Brief ihrer Mutter gelesen hatte, ging sie in ihr Schlafzimmer, legte sich auf die Matratze am Fußboden - das Bettgestell war noch nicht geliefert worden - und weinte fast zwanzig Minuten lang. Sie vermutete, daß dieses Weinen früher oder später unvermeidlich gewesen wäre; der Brief ihrer Mutter hatte den Zeitpunkt nur vorverlegt, das war alles.
Stanley wollte Kinder. Sie wollte Kinder. Sie stimmten in dieser Hinsicht ebenso überein wie in bezug auf ihren Lebensstil, ihre Vorliebe für Filme mit Woody Allen und ihren unregelmäßigen Besuch der drei Meilen entfernten Synagoge, ihre politischen Ansichten, ihre Abneigung gegen Marihuana und vieles andere. Das zusätzliche Zimmer in dem kleinen Haus, das sie in Traynor gemietet hatten, war sozusagen zweigeteilt: die rechte Seite gehörte ihr, für ihre Näharbeiten; die linke Seite diente ihm als Lesezimmer
- aber ihnen beiden war eines so klar, daß sie kaum darüber reden mußten: eines Tages würde dieses Zimmer dem Kind - Andy oder Jenny - gehören. Aber weder Andy noch Jenny stellten sich ein. Die Singer-Nähmaschine und die Weidenkörbe mit Stoffen und Schnittmustern mußten nie einem Kinderbettchen Platz machen, und im Bad, im Schränkchen unter dem Ablauf, lagen nach wie vor ihre Hygienebinden. Sie bekam ihre Periode mit deprimierender Regelmäßigkeit.
1976, drei Jahre, nachdem sie ihre Antibabypille weggeworfen hatte, suchten Stanley und sie einen Arzt namens Harkavey in Atlanta auf. »Wir möchten wissen, ob mit uns etwas nicht in Ordnung ist«, erklärte Stan, »und wenn ja, ob man etwas dagegen tun kann.«
Es wurden alle erforderlichen Tests gemacht; sie zeigten, daß Stans Sperma lebte und gut war, daß Patty fruchtbar war und alle Kanäle, die offen sein mußten, das auch tatsächlich waren. Alles war in bester Ordnung. Nur war in Wirklichkeit eben nichts in Ordnung.
Harkavey, der keinen Ehering trug und das offene, muntere und frische Gesicht eines College-Studenten hatte, der gerade vom Skiurlaub in Colorado zurückgekehrt ist, erklärte ihnen, daß sie mit ihrem Problem keineswegs allein dastünden. In solchen Fällen gäbe es anscheinend irgendeine psychologische Wechselwirkung. Offensichtlich könne man sich ein Kind einfach zu sehr wünschen. Sie sollten sich entspannen. Sie sollten, wenn sie könnten, beim Sex nicht an Zeugung denken.
Stan war auf dem Heimweg mürrisch. Patty fragte ihn nach dem Grund.
»Ich denke während der Sache nie an Zeugung«, sagte er.
»Du hast ihm also nicht geglaubt«, erwiderte sie und versuchte, nicht zu lachen.
»Ich habe heute eine wichtige Wahrheit über mich selbst herausgefunden«, sagte er. »Offensichtlich ist es mir unmöglich, einem Arzt zu vertrauen, der aussieht wie ein Student und der Turnschuhe trägt.«
Nun mußte sie doch lachen, obwohl sie sich ein bißchen einsam und ängstlich fühlte. Und in jener Nacht, als sie glaubte, Stan wäre schon längst eingeschlafen, erschreckte er sie, als er plötzlich im Dunkeln sprach: mit einer tonlosen Stimme sprach, die vor unterdrückten Tränen schwankte. »Ich bin derjenige«, sagte er, »ich bin schuld daran.«
Sie nahm ihn ganz fest in ihre Arme.
»Stanley, red doch keinen solchen Unsinn«, sagte sie. Aber sie hatte Herzklopfen - starkes Herzklopfen. Sie war nicht einfach nur bestürzt über seine Worte; es war vielmehr so, als hätte er ihre geheimsten Gedanken gelesen, eine heimliche Überzeugung, für die sie keine vernünftige Erklärung hätte anführen können: sie spürte - sie wußte - daß etwas tatsächlich nicht in Ordnung war... und es lag nicht an ihr. Es lag an ihm, wie er soeben gesagt hatte. Etwas in ihm war schuld daran.
»Sei kein solcher Dummkopf«, flüsterte sie, den Kopf an seiner Schulter. Er schwitzte etwas, und sie begriff plötzlich, daß er Angst hatte, daß die Angst in Kältewellen aus ihm entwich; nackt neben ihm zu liegen war plötzlich so, als stünde man nackt vor einem offenen Kühlschrank.
»Ich rede keinen Unsinn«, sagte er mit jener tonlosen, tränenerstickten Stimme, »und das weißt du. Es ist meine Schuld. Aber ich weiß nicht, warum.«
»Du kannst nichts Derartiges wissen.« Ihre Stimme war barsch, zänkisch
- so hörte sich die Stimme ihrer Mutter an, wenn diese Angst hatte. Und während sie noch mit ihm schimpfte, überlief sie ein heftiger Schauder. Stanleys Arme schlössen sich fester um sie. Er hatte ihre Angst bemerkt.
»Ich weiß es, und du weißt es auch«, sagte er wieder. Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort: »Manchmal glaube ich, den Grund zu kennen. Manchmal habe ich einen Traum, einen bösen Traum, und ich erwache und denke: >Jetzt weiß ich es. Ich weiß, was nicht in Ordnung ist.< Aber dann verblaßt alles sofort wieder. Wie das bei Träumen so üblich ist.«
Sie wußte, daß er manchmal schlecht träumte. Mindestens ein halbes Dutzend Mal war sie aufgewacht, weil er stöhnte und um sich schlug. Vermutlich hatte sie seine Alpträume aber auch manchmal verschlafen. Wenn sie ihn nach dem Inhalt dieser Träume fragte, sagte er immer dasselbe: »Ich kann mich nicht erinnern.« Dann griff er nach seinen Zigaretten, rauchte im
Bett und beruhigte sich allmählich. »Es wird vorübergehen«, hatte er ihr ein- oder zweimal, nach besonders schlimmen Alpträumen, gesagt. »Sie gehen immer vorüber, Liebling.«
Ihre Kinderlosigkeit ging nicht vorüber, und am Abend des 27. Mai 1985, am Abend des Bades, waren sie immer noch kinderlos. Ihre Binden lagen weiterhin am gewohnten Platz auf dem Regal unter dem Waschbecken im Bad; sie bekam ihre Periode so regelmäßig wie eh und je. Ihre Mutter hatte aufgehört, in ihren Briefen Fragen zu stellen; und auch, wenn Stan und Patty zweimal im Jahr zu Besuch kamen, fragte sie nichts und machte keine lustigen Bemerkungen mehr, ob sie denn auch ihr Vitamin E einnähmen. Vielleicht hatte sie den Schmerz in Pattys Augen gesehen oder zwischen den Zeilen von Pattys kurzen, fröhlichen Briefen gelesen. Stanley war ebenfalls nie wieder darauf zurückgekommen, aber manchmal, wenn er sich unbeobachtet glaubte, sah sie einen Schatten auf seinem Gesicht. So als versuche er, sich an etwas zu erinnern - wie etwa an einen Alptraum nach dem Aufwachen.
Abgesehen von dieser einen Wolke verlief ihr gemeinsames Leben jedoch sehr angenehm, bis zum Abend des 27. Mai, als mitten in der Show >Family Feud< das Telefon läutete. Patty hatte sechs von Stans Hemden, zwei ihrer Blusen, ihr Nähgarn und ihre Knopfschachtel neben sich; Stan hatte den Roman von William Denbrough in der Hand. Auf dem Titelblatt war ein knurrendes Tier abgebildet, auf der hinteren Einbandseite ein Mann mit Glatze und dicker Brille.
Das Telefon läutete.
Stan, der näher am Apparat saß als Patty, nahm den Hörer ab und meldete sich wie immer: »Hallo, hier bei Uns.«
Er lauschte, und zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine Falte. »Wer spricht dort? Was sagten Sie?«
Einen Moment lang wurde Patty von Angst überwältigt. Später log sie aus Scham und erzählte ihren Eltern, daß sie von dem Augenblick an, als das Telefon läutete, gewußt habe, daß etwas nicht in Ordnung sei; in Wirklichkeit hatte es nur diese kurze Sekunde der Angst gegeben, als sie flüchtig von ihrer Näharbeit aufgeblickt hatte. Aber vielleicht stimmte es dennoch. Vielleicht hatten sie beide lange vor diesem Telefonanruf geahnt, daß etwas auf sie zukam, etwas, das nicht zu dem hübschen Haus paßte, das so geschmackvoll hinter Eibenhecken lag.