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Sie wußte noch, daß sie nach unten gerannt - nein eher getaumelt war, aber wen hatte sie anrufen wollen? Absurderweise dachte sie: Ich möchte die Schildkröte anrufen, aber die Schildkröte konnte uns nicht helfen. Es spielte keine Rolle. Sie hatte die Null gewählt und war danach wieder zu sich gekommen. Aber Stan, Stan hatte sich im Bad eingeschlossen, er antwortete nicht, jemand mußte erfahren, daß Stan nicht antwortete, weil er bewußtlos oder tot war. Jemand mußte ihr helfen. Vielleicht war es doch noch nicht zu spät. Vielleicht...

Sie steckte ihren Handrücken in den Mund und biß kräftig zu. Sie versuchte nachzudenken, versuchte, sich zum Denken zu zwingen.

Die Schlüssel. Die Schlüssel im Küchenschrank. Stans methodische Art.

Sie begab sich in die Küche und stieß dabei mit dem Fuß gegen die Knopfschachtel neben ihrem Stuhl. Einige Knöpfe flogen heraus und funkelten im Lampenlicht wie Glasaugen. Sie ging an Stans Fernsehsessel vorbei; die Fußstütze war noch hochgestellt, William Denbroughs Buch lag aufgeschlagen auf der Seitenlehne.

Auf der Innenseite der Hängeschranktür über der Spüle war ein lackiertes Schlüsselbrett von der Form eines großen Schlüssels angeschraubt - einer von Stans Klienten hatte es in seiner Werkstatt angefertigt und ihnen vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt. Daran hingen an kleinen Haken jeweils zwei Exemplare von allen Schlüsseln im Haus, von Stan ordentlich beschriflet garage, dachboden, unteres bad, oberes bad, vorderTÜR, HINTERTÜR.

Patty griff nach dem Schlüssel mit der Aufschrift oberes bad und rannte auf die Treppe zu, zwang sich dann aber, langsam zu gehen. Wenn sie rannte, kehrte die Panik unweigerlich zurück, und sie war einer Panik sowieso schon viel zu nahe.

Sie ging die Treppe hinauf und zu der geschlossenen Badezimmertür.

»Stan?« rief sie und rüttelte gleichzeitig wieder an der Tür. Sie hatte plötzlich noch mehr Angst als zuvor, wollte aber den Schlüssel nicht benutzen, weil das irgendwie etwas so Definitives an sich hatte.

Aber die Tür war immer noch verschlossen, und das enervierende Geräusch des tropfenden Wasserhahns war die einzige Antwort, die sie bekam.

Ihre Hand zitterte, und es dauerte eine Weile, bevor es ihr gelang, den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken. Sie drehte ihn und hörte, wie sich das Schloß öffnete. Sie fummelte am Türknopf herum, dann stieß sie die Tür weit auf.

»Stanley? Stan...?«

Sie blickte zur Badewanne mit dem am hinteren Ende zurückgeschobenen blauen Duschvorhang und verstummte. Einen Augenblick später würde sie zu schreien beginnen, und Anita MacKenzie würde - in der Küche, wo sie gerade Fisch wusch - im Nebenhaus ihre Schreie hören und die Polizei anrufen, in der festen Überzeugung, daß jemand ins Haus der Uris eingebrochen war und daß dort Menschen umgebracht wurden.

Aber in diesem ersten Augenblick stand Patty Uris einfach da, die Hände vor ihrem dunklen Rock gefaltet, mit weißem, entsetztem Gesicht. Sie sah in diesem Moment sonderbar jung aus. Sie sah aus wie ein Schulmädchen, das seine Aufgaben nicht gemacht hat und vom Lehrer vor der ganzen Klasse getadelt wird. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und ihr Mund versuchte Schreie zu artikulieren, die noch zu groß waren, um sich durch ihre Stimmbänder quetschen zu können.

Das von Neonröhren beleuchtete Badezimmer war sehr hell. Die Wanne war mit rosafarbenem Wasser gefüllt. Stanley lag gegen die Kacheln gelehnt da, den Kopf zur Seite geneigt, die toten Augen nach oben starrend, den Mund weit aufgerissen - wie eine sperrangelweit geöffnete Tür. Sein Gesicht drückte grenzenloses Entsetzen aus. Eine Packung Rasierklingen lag auf dem Rand der Wanne. Er hatte sich die Unterarme vom Ellbogen bis zum Handgelenk auf der Innenseite tief aufgeschlitzt und mit Querschnitten entlang des Handansatzes zu >T<s vervollständigt. Die tiefen, klaffenden roten Wunden schimmerten im weißen Licht der Neonröhren.

Ein Tropfen sammelte sich am Wasserhahn. Er wurde dicker. Er wurde schwanger, könnte man sagen. Er funkelte. Er fiel hinab. Plink.

Er hatte seinen rechten Zeigefinger in sein eigenes Blut getaucht und ein einziges Wort auf die blauen Kacheln über der Badewanne geschrieben -zwei riesige zittrige Buchstaben. Vom zweiten Buchstaben dieses Wortes führte eine blutige Fingerspur im Zickzack nach unten - seine Hand mußte abgeglitten sein - jetzt schwamm sie auf der Wasseroberfläche. Patty dachte, daß Stanley dieses Wort geschrieben haben mußte, als ihm schon das Bewußtsein schwand. Es kam ihr vor wie ein allerletzter Aufschrei.

Es

Wieder fiel ein Tropfen in die Badewanne.

Plink.

Das gab Patty Uris den Rest. Sie fand endlich ihre Stimme wieder, und während sie in die toten Augen ihres Mannes starrte, fing sie zu schreien an.

2. Richard Tozier macht sich aus dem Staub

Rich Tozier hatte das Gefühl, seine Sache sehr gut zu machen, bis er sich dann plötzlich übergeben mußte.

Er hörte sich alles an, was Mike Hanion ihm erzählte, sagte das Richtige, beantwortete Mikes Fragen und stellte sogar selbst einige. Er war sich selbst vage bewußt, daß er mit einer seiner Stimmen redete - nicht mit einer jener übertriebenen, komischen Stimmen, die er manchmal im Radio von sich gab (im Augenblick spielte er am liebsten Kinky Briefcase, den Sexualberater, und die Rundfunkhörer waren davon fast ebenso begeistert wie von seinem Colonel Buford Kissdrivel, dessen sie nie überdrüssig wurden), sondern mit einer warmen, ruhigen, zuversichtlichen Stimme. Einer Mir-geht-es-gut-Stimme. Sie hörte sich großartig an, aber sie war eine Lüge. Ebenso wie seine sämtlichen anderen Stimmen Lügen waren.

»Erinnerst du dich noch an die ganze Sache, Rich?« fragte Mike ihn.

»Sehr wenig«, antwortete Rich. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Genügend, nehme ich an.«

»Wirst du herkommen?«

»Ich komme«, sagte Rich und legte den Hörer auf.

Er saß in seinem Arbeitszimmer, lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und starrte auf den Pazifischen Ozean hinaus. Einige Kinder mit Surfbrettern spielten im seichten Wasser Wellenreiten. Die Brandung war an diesem Tag nicht sehr stark.

Die Uhr auf dem Schreibtisch - eine teure L. E. D.-Quartzuhr, die er von einer Schallplattenfirma geschenkt bekommen hatte - zeigte 17.09 Uhr an. Es war der 27. Mai 1985. Dort, von wo Mike angerufen hatte, war es natürlich drei Stunden später. Bereits dunkel. Bei diesem Gedanken bekam er eine Gänsehaut und begann rasch, Verschiedenes zu erledigen. Zuallererst legte er natürlich eine Schallplatte auf - griff aufs Geratewohl aus den Tausenden von Platten in den Regalen eine heraus. Rock and Roll war ebenso ein Teil seines Lebens wie die Stimmen, und es fiel ihm schwer, etwas ohne Musik zu tun - je lauter sie war, desto besser. Die blindlings herausgeholte Platte erwies sich als Motown-Retrospektive. Der kürzlich verstorbene Marvin Gaye, der nun auch in der >Rock-Show der Toten< - wie Rich sich manchmal ausdrückte - auftreten konnte, sang >/ Heard It Through the Grapevine<: »Ooooh-hoo, I bet your wond'rin' how I knew...«

»Nicht übel«, sagte Rich und lächelte sogar ein wenig. Dies war eine schlimme Sache, und im ersten Augenblick hatte sie ihn zugegebenermaßen fast umgehauen, aber nun hatte er das Gefühl, damit fertig werden zu können. Nur keine Aufregung!

Er begann Vorbereitungen für die Reise nach Hause zu treffen. Und irgendwann während der nächsten Stunde wurde ihm bewußt, daß es so war, als wäre er gestorben, hätte aber die Erlaubnis erhalten, alle Beerdigungsformalitäten selbst zu erledigen und letzte geschäftliche Dispositionen zu treffen. Und er hatte das Gefühl, seine Sache sehr gut zu machen. Er rief in seinem üblichen Reisebüro an, obwohl er befürchtete, daß Miß Feeny um diese Zeit schon Feierabend hatte. Zum Glück war sie aber noch im Büro. Er erklärte ihr, worum es ging, und sie bat ihn um eine Viertelstunde Geduld.