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»Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Carol«, sagte er. Sie waren in den letzten drei Jahren dazu übergegangen, sich mit Rich und Carol anstatt mit Mr. Tozier und Miß Feeny anzureden - eigentlich komisch, nachdem sie sich nur vom Telefon her kannten.

»Okay, den können Sie gleich ableisten«, sagte Carol. »Spielen Sie mal Kinky Briefcase für mich.«

Sofort legte Richie los: »Hier ist Kinky Briefcase, Ihr Sexualberater - neulich kam ein Mann zu mir und wollte wissen, was das Schlimmste daran sei, wenn man AIDS bekomme.« Seine Stimme war etwas tiefer geworden; gleichzeitig hatte sie einen munteren Klang bekommen - es war ohne jeden Zweifel eine amerikanische Stimme, und doch beschwor sie irgendwie das Bild eines wohlhabenden Kolonialbriten hervor, der ebenso charmant wie dumm war. Richie hatte selbst nicht die geringste Ahnung, wer Kinky Briefcase eigentlich war, aber er war überzeugt davon, daß der Mann weiße Anzüge trug, Esquire las und irgendein Zeug trank, das in großen Gläsern serviert wurde und wie Shampoo mit Kokosnußaroma schmeckte. »Ich hab' ihm ohne Zögern geantwortet - >Am allerschlimmsten ist der Versuch, Ihrer Mutter zu erklären, wie Sie sich bei einem Mädchen auf Haiti angesteckt haben .< Das war's für heute. Bis zum nächsten Mal verabschiedet sich von Ihnen Ihr Sexualberater Kinky Briefcase, dessen Wahlspruch lautet: >Nur nach Kinkys Visitenkarte greifen, dann klappt's bald wieder mit dem Steifen«

Carol Feeny kreischte vor Lachen. »Das ist perfekt! Perfekt! Mein Freund sagt, er glaube nicht, daß Sie diese Stimmen so einfach ohne Hilfsmittel hinkriegen, er sagt, Sie müßten dazu irgendso'n Gerät zur Stimmenveränderung oder so was Ähnliches haben...«

»Talent und sonst nichts, meine Liebe«, sagte Rich. Kinky Briefcase war abgetreten. Jetzt war W. C. Fields am Apparat - Zylinder, rote Nase, Golfsack und so weiter. »Ich bin mit Talent so vollgepumpt, daß ich sämtliche Körperöffnungen verstopfen muß, damit es nicht aus mir rausläuft wie... na ja, damit es nicht ausläuft.«

Carol lachte wieder schallend, und Rich schloß die Augen. Sein Kopf begann zu schmerzen.

»Seien Sie ein Engel und tun Sie Ihr Möglichstes«, sagte er - immer noch mit der Stimme von W. C. Fields - und legte den Hörer auf, während sie noch lachte.

Jetzt mußte er wieder er selbst sein, und das war schwierig - es fiel ihm von Jahr zu Jahr schwerer. Es war viel einfacher, tapfer zu sein, wenn man jemand anderer war.

Er stöberte gerade nach einem Paar bequemer Mokassins und war nahe daran, sich mit Segeltuchschuhen zu begnügen, als das Telefon klingelte. Carol hatte in Rekordzeit alles arrangiert. Ein Erster-Klasse-Ticket für den Nonstop-Flug nach Boston war für ihn reserviert. Er würde Los Angeles um 21.03 Uhr verlassen und gegen 5 Uhr morgens im Logan-Flughafen landen. Um halb acht konnte er dann mit Delta von Boston nach Bangor in Maine weiterfliegen, wo er um 8.20 Uhr ankommen würde. Carol hatte bei Avis für ihn eine große Limousine vorbestellt, und vom Flughafen Bangor bis Derry seien es nur 26 Meilen, erklärte sie ihm.

Nur 26Meilen? dachte Rich. Ist es nicht viel weiter? Na ja, in Meilen stimmt's vermutlich, Carol. Aber Sie haben nicht die leiseste Ahnung, wie weit es wirklich bis nach Derry ist, und ich auch nicht. Aber, o Gott, o mein Gott, ich werdees herausfinden.

»Ich habe kein Hotelzimmer für Sie bestellt, weil ich nicht wußte, wie lange Sie in Derry bleiben«, sagte Carol. »Soll ich...«

»Nein, danke, das erledige ich selbst.«

Gleich darauf rief er die Fernsprechauskunft an, um festzustellen, ob das Derry Town House noch existierte. O Gott, das war nun wirklich ein Name aus der Vergangenheit. Seit wieviel Jahren hatte er nicht mehr an das Derry Town House gedacht? Seit zehn - zwanzig - fünfundzwanzig Jahren? So verrückt es auch zu sein schien, es mußte wirklich mindestens 25 Jahre her sein, und wenn Mike nicht angerufen hätte, hätte er vermutlich überhaupt nie mehr im Leben daran gedacht. Und doch hatte es einmal eine Zeit gegeben, da er jeden Tag auf dem Schulweg an dem großen roten Ziegelbau vorbeiging - und manchmal rannte er auch daran vorbei, während Henry Bo-wers und Belch Huggins und jener andere große Junge, Victor Sowieso, ihn verfolgten und brüllten: Wir kriegen dich schon noch, Dreckskerl! Kriegen dich schon noch, du Arschloch! Kriegen dich schon noch, Vierauge! Aber hatten sie ihn jemals wirklich erwischt?

Er versuchte noch, sich daran zu erinnern, als die Fernsprechauskunft sich meldete.

»Ich hätte gern eine Nummer in Derry, Maine...«

Derry! O Gott! Sogar das Wort klang in seinem Munde seltsam; es auszusprechen war so ähnlich, als würde man eine Antiquität küssen.

».. .und zwar die des Hotels >Derry Town House<.«

»Einen Moment bitte.«

Nichts zu machen. Es wird bestimmt nicht mehr da sein. Man wird es im Rahmen der Stadtsanierung abgerissen oder irgendeinem anderen Bestimmungszweck zugeführt haben. Vielleicht ist es auch abgebrannt, weil irgendein betrunkener Vertreter im Bett geraucht hat. Nicht mehr da, Rich - genauso wie die Brille, mit der Henry Bowers dich immer gehänselt hat. Wie heißt es doch noch in einem SpringsteenSong? >Glory days... gone in the wink of ayoung girl's eye.< Das Zwinkern eines jungen Mädchens... Welches Mädchen denn? Nun, natürlich Bev. Bev...

Aber wider jede Erwartung existierte das Town House noch, denn eine ausdruckslose, roboterartige Stimme gab ihm die Nummer durch: »9.. .4.. .1.. .8.. .2.. .8.. .2. Ich wiederhole: 9418282.«

Er wählte die Nummer des Hotels, das er zuletzt durch die Hornbrille seiner Kindheit gesehen hatte, hielt den Hörer an sein Ohr und blickte aus dem Fenster. Die Kinder am Strand waren verschwunden. Jetzt schlenderte ein Pärchen Hand in Hand am Wasser entlang. Das Bild hätte ein gutes Werbeplakat für Carols Reisebüro abgegeben, wenn die beiden nicht Brillenträger gewesen wären.

Wir kriegen dich schon noch, Vierauge! Und dann schlagen wir deine Brille kaputt!

Criss, fiel ihm plötzlich ein. Sein Familienname war Criss. Victor Criss.

O Gott, er wollte das doch gar nicht wissen, nicht im geringsten, aber das schien überhaupt keine Rolle zu spielen. Etwas ging dort unten in den Kellergewölben vor, dort unten, wo Rich Tozier seine Privatsammlung von Golden Oldies aufbewahrte. Türen öffneten sich.

Nur sind dort unten keine Schallplatten. Und du bist dort unten nicht der berühmte Discjockey Rich >Records< Tozier, Mann-der-tausend-Stimmen. Und das, was sich da öffnet... es sind keine richtigen Türen.

Er versuchte diese Gedanken abzuschütteln.

Ich muß mir nur ins Gedächtnis rufen, daß ich völlig okay bin. Ich bin okay, du bistokay, Rich Tozier ist okay. Er könnte jetzt nur eine Zigarette gebrauchen, weiter nichts.

Er hatte das Rauchen vor vier Jahren aufgegeben, aber im Moment könnte er eine Zigarette wirklich gut gebrauchen.

Dort unten sind keine Schallplatten, sondern Leichen. Du hast sie tief begraben, aber nun ereignet sich irgendein seltsames Erdbeben, und die Erde spuckt sie aus. Dort unten bist du nicht Rich >Records< Tozier; dort unten bist du nur Rich > Vier-auge< Tozier, und du bist dort zusammen mit deinen Freunden, und du machst dir vor Angst fast in die Hose. Und das sind keine Türen, und sie öffnen sich auch nicht einfach. Es sind Grüfte, Richie. Sie zerbersten, und die Vampire, die du tot glaubtest, fliegen alle wieder heraus.

Eine Zigarette, nur eine. Er wäre jetzt sogar mit einer Carlton zufrieden.