Kriegen dich schon noch, Vierauge! Und dann mußt du deine Scheißbüchertasche fressen!
»Town House«, ertönte eine Männerstimme mit Yankee-Akzent an seinem Ohr.
Rich erklärte der Stimme, er wolle ab dem nächsten Tag im Town House für sich eine Suite reservieren lassen.
»Für wie lange, Mr. Tozier?« Die Stimme hatte jetzt einen respektvollen Klang.
»Das kann ich noch nicht sagen. Ich habe...«
Er unterbrach sich für einen kurzen Augenblick. Was genau hatte er denn in Derry zu tun? Vor seinem geistigen Auge tauchte der Junge mit der Büchertasche auf, der vor den rohen Burschen davonrannte, ein Junge mit Brille, ein schmaler Junge mit blassem Gesicht, das auf mysteriöse Weise jedem vorbeikommenden Raufbold zuzurufen schien:
Schlag mich! Schlag mich! Hier sind meine Lippen! Nur feste drauf schlag mir ein paar Zähne ein! Hier ist meine Nase! Blutig schlagen kannst du sie bestimmt, nun sieh mal zu, ob du sie auch brechen kannst! Box mir aufs Ohr, damit es anschwillt wie ein Blumenkohl! Spalt mir eine Augenbraue! Hier ist mein Kinn - hol aus zum K. o.! Hier sind meine Augen, so blau und groß hinter dieser verhaßten, verhaßten Brille, dieser Hornbrille, deren einer Bügel mit Heftpflaster geflickt ist. Schlag die Brillengläser ein! Treib einen Glassplitter in eines dieser Augen und schließ es für immer! Was soll's!
Er schloß die Augen und sagte: »Ich habe geschäftlich in Derry zu tun. Sagen wir mal eine Woche, mit der Möglichkeit zur Verlängerung.« Er gab dem Hotelangestellten die Nummer seiner American Express Card durch und legte auf. Dann rief er Steve Albrecht, den Programmdirektor von klad, an.
»Was ist los, Rich?« fragte Steve. Die letzten Umfragen hatten ergeben, daß klad der beliebteste Rock-Sender von Los Angeles war, und seitdem hatte Steve gute Laune.
»Es wird dir noch leid tun, gefragt zu haben«, sagte Rich. »Ich mach' mich nämlich aus dem Staub, Steve.«
»Du machst - was?« Am Klang seiner Stimme konnte man sich sein Stirnrunzeln nur allzu deutlich vorstellen. »Ich glaube, ich hab' dich nicht richtig verstanden.«
»Ich muß mich auf die Socken machen, Steve. Ich fahre weg.«
»Was soll denn das heißen? Du hast morgen nachmittag von zwei bis sechs Uhr deine Sendung, wie immer. Und um vier interviewst du sogar Clarence Clemons im Studio. Sagt dir der Name Clarence Clemons was, Rich? Kennst du zufällig >Come on and blow, Big Man<?«
»Clemons kann genausogut von Mike O'Hara interviewt werden.«
»Clemons will aber nicht von Mike interviewt werden, Rich. Er will sich auch nicht mit Bobby Russell unterhalten. Und mit mir auch nicht. Clarence Clemons ist ein großer Fan von Buford Kissdrivel und von deinen anderen Stimmen. Er will nur mit dir reden, mein Freund. Und ich habe nicht die geringste Lust, daß ein bepißter 250 Pfund schwerer Saxophonist in meinem Studio Amok läuft!«
»Ich glaube nicht, daß er die schlechte Angewohnheit hat, Amok zu laufen«, sagte Rich. »Wir reden hier schließlich von Clarence Clemons, nicht von Keith Moon.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Rich wartete geduldig.
»Rich, das ist doch nicht dein Ernst, oder?« fragte Steve schließlich in klagendem Ton. »Falls nicht gerade deine Mutter gestorben ist oder du dir plötzlich einen Gehirntumor rausoperieren lassen mußt, nennt man so was nämlich 'ne Riesenschweinerei.«
»Ich muß weg, Steve.«
»Isf deine Mutter krank? Ist sie - was der Himmel verhüten möge - gestorben?«
»Sie ist vor zehn Jahren gestorben.«
»Hösf du einen Gehirntumor?«
»Nicht einmal Polypen in der Nase.«
»Das ist nicht komisch, Rich!«
»Nein.«
»Es gefällt mir gar nicht, daß du plötzlich solche Mucken hast!«
»Mir auch nicht, aber ich muß fort.«
»Wohin? Weshalb? Was ist denn los? Erzähl's mir, Rich.«
»Jemand hat mich angerufen... jemand, den ich vor langer Zeit gut gekannt habe. Weit weg von hier. Damals ist etwas passiert, und ich... ich habe etwas versprochen... Wir alle haben damals versprochen, daß wir zurückkehren würden, wenn dieses Etwas wieder beginnen würde. Und das ist jetzt der Fall.«
»Und um was geht es bei diesem Etwas?«
»Das darf ich dir nicht sagen.« Du würdest mich für verrückt halten, wenn ich dir die Wahrheit sagen würde: Ich erinnere mich nicht.
»Wann hast du dieses glorreiche Versprechen denn gegeben?«
»Vor 27 Jahren. Im Sommer 1958.«
Wieder trat ein langes Schweigen ein, und Rich wußte, daß Steve Al-brecht überlegte, ob Rich Tozier ihn zum Narren hielt oder aber plötzlich den Verstand verloren hatte.
»Vor 27 Jahren warst du zehn«, sagte Steve schließlich sanft.
»Knapp elf, um genau zu sein.«
Erneut langes Schweigen. Rich wartete geduldig.
»In Ordnung«, sagte Steve. »Ich werd' dafür sorgen, daß Mike für dich einspringt. Vielleicht kann auch Chuck Foster ein paar Sendungen übernehmen, wenn ich rausfinde, welches chinesische Restaurant er im Augenblick bevorzugt. Ich werd's tun, weil wir gemeinsam einen weiten Weg zurückgelegt haben. Aber ich werd' dir nie vergessen, daß du mich von einem Tag auf den anderen sitzenläßt, Rich.«
»Oh, nun übertreib mal nicht«, sagte Rich, aber sein Kopfweh wurde stärker. Er wußte genau, was er tat. Glaubte Steve etwa, er wüßte das nicht? »Ich brauche ein paar freie Tage, das ist alles. Du tust ja so, als würd' ich plötzlich auf unseren Beruf scheißen.«
»Ein paar freie Tage - aber wozu? Nur weil du als zehn- oder elfjähriger Junge etwas versprochen hast? Kinder in diesem Alter machen doch keine ernsthaften Versprechen, verdammt noch mal! Aber das ist noch nicht einmal der Kern der Sache, Rich. Dies hier ist keine Versicherungsgesellschaft. Das hier ist Show-Business, wenn auch in bescheidenem Umfang, und das weißt du selbst verdammt gut. Wenn du mir vor einer Woche Bescheid gesagt hättest, säße ich jetzt nicht mit diesem Telefonhörer in der einen Hand und einer Flasche Mylanta in der anderen da. Du hast mich in 'ne Riesenscheiße reingeritten, und das weißt du, also spiel gefälligst wenigstens nicht den Dummen!«
Steve war jetzt fast am Brüllen, und Rich schloß die Augen. Ich werd's dir nie vergessen, hatte Steve gesagt, und Rich vermutete, daß das stimmte. Aber Steve hatte auch gesagt, daß Kinder keine ernsthaften Versprechen machen könnten, und das stimmte keineswegs. Rich konnte sich nicht erinnern, worum es bei diesem Versprechen im einzelnen gegangen war - vielleicht wollte er sich auch gar nicht erinnern -, aber es war ihnen allen damals sehr ernst damit gewesen.
»Steve, ich muß fahren.«
»Ja. Und ich habe dir gesagt, daß ich die Sache irgendwie hinbiegen werde. Also fahr los! Fahr, du unzuverlässiger Arsch!«
»Steve, das ist doch lächer...«
Aber Steve war nicht mehr dran. Rich hatte seinen Hörer kaum aufgelegt, als das Telefon erneut klingelte, und er wußte, daß es wieder Steve sein würde, noch wütender als eben. Es wäre sinnlos, sich jetzt weiter mit ihm zu unterhalten; dadurch würde alles nur noch schlimmer werden. Deshalb stellte er das Telefon mit Hilfe des Schalters an der Seite des Apparates einfach ab.
Er ging nach oben, holte zwei Koffer aus dem Schrank und packte ziemlich wahllos alles Mögliche hinein: Jeans, Hemden, Unterwäsche, Socken. Er holte sein Rasierzeug und ging wieder nach unten.
An einer Wohnzimmerwand hing ein Schwarzweißfoto von Big Sur, das Ansei Adams aufgenommen hatte. Rich klappte es an versteckten Scharnieren zurück, und dahinter kam ein Safe zum Vorschein. Er öffnete ihn und griff hinter all die Dokumente - dieses Haus in Malibu, zwanzig Acker Wald in Idaho, Aktien. Er hatte diese Aktien scheinbar aufs Geratewohl gekauft -sein Makler griff sich immer an den Kopf, wenn er Rich kommen sah -, aber sie waren mit den Jahren stetig gestiegen. Er war manchmal ganz überrascht bei dem Gedanken, daß er fast - nicht ganz, aber fast - ein reicher Mann war. Das hatte er der Rock-and-Roll-Musik zu verdanken... und natürlich auch seinen Stimmen.