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Haus, Grundbesitz, Aktien, Versicherungspolice, sogar eine Kopie seines Testaments. Die Fäden, die einen fest an die vorgezeichnete Landkarte des Lebens binden, dachte er.

Ihn überkam plötzlich ein wilder Impuls, einfach ein Streichholz anzuzünden und das ganz verdammte Zeug zu verbrennen. Die Papiere in diesem Safe bedeuteten ihm plötzlich überhaupt nichts mehr.

In diesem Augenblick packte ihn zum erstenmal richtig der Schrecken -nicht vor etwas Übernatürlichem, sondern einfach bei der Erkenntnis, wie selbstmörderisch einfach es war, sein gewohntes Leben plötzlich aufzugeben. Es war furchterregend - man ging einfach fort.

Und hier war das Zeug, das man zum Weggehen brauchte, hinter den ganzen Papieren, die sozusagen nur Vettern zweiten Grades von Geld waren. Hier lag das Bargeld. 4000 Dollar.

Er holte es heraus und stopfte es in seine Hosentasche; und dabei fragte er sich, ob er dieses Geld - einen Fünfziger hier, einen Hunderter dort -wohl unbewußt für eine solche Gelegenheit zur Seite gelegt hatte. Geld zum Verduften.

»Mann, o Mann, das ist ja wirklich erschreckend«, sagte er vor sich hin und war sich kaum bewußt, daß er Selbstgespräche führte. Er starrte aus dem großen Fenster auf den Strand hinaus, der jetzt menschenleer war. Auch das Pärchen war verschwunden.

O ja, Doktor, jetzt fällt mir alles wieder ein. Erinnern Sie sich beispielsweise an Stanley Uris? Na und ob! Stanley Urin nannten ihn die großen Burschen. He, Urin, wohin des Weges, du verdammter Christusmörder? Soll einer deiner schwulen Freunde dir einen abwichsen?

Rich warf die Safetür zu und klappte das Foto davor wieder auf. Wann hatte er zuletzt an Stan Uris gedacht? Vor fünf Jahren? Vor zehn? Vor zwanzig? Rich war mit seiner Familie 1960 von Derry weggezogen, und wie schnell waren alle Gesichter aus seinem Gedächtnis entschwunden. Seine Bande. Diese jämmerliche Schar von Verlierern mit ihrem kleinen Klubhaus in den Barrens. Sie hatten sich selbst vorgespielt, sie wären Dschungelforscher, Angehörige des Marinebaubataillons der Navy, die auf einem Atoll im Pazifik eine Landebahn bauten und gleichzeitig die Japsen abwehrten; sie hatten Dammbaumeister, Cowboys und Weltraumfahrer gespielt, aber eigentlich hatten all ihre Spiele nur einen einzigen Sinn gehabt: es war ein Versteckspiel gewesen. Sie hatten sich vor den großen Jungen versteckt, vor Henry Bowers, Victor Criss und Belch Huggins und den übrigen, vor den Schlägertypen. Was für ein erbärmlicher Haufen waren sie doch gewesen - Stanley Uns, der Jude; Bill Denbrough, der außer >Hi-yo, Silver, los!< nichts sagen konnte, ohne so stark zu stottern, daß man fast wahnsinnig wurde; Beverly Marsh mit ihren blauen Flecken und ihren Zigaretten; Ben Hanscom, der so dick war, daß er fast wie eine menschliche Ausgabe von Moby Dick aussah; und Richie Tozier mit seinen dicken Brillengläsern und seinen hervorragenden Zeugnissen - außer im Betragen - und seinem Gesicht, das andere geradezu aufzufordern schien, es zu Brei zu schlagen; und die übrigen.

Wie ihm alles wieder einfiel... und nun stand er hier in seinem Wohnzimmer und zitterte hilflos wie ein Hundebastard im Sturm, denn das war nicht alles, woran er sich erinnerte. Es gab auch noch andere Dinge, Dinge, an die er seit vielen Jahren nicht mehr gedacht hatte.

Blutige Dinge.

Eine Dunkelheit. Irgendeine Dunkelheit.

Das Haus an der Neibolt Street. Bill, der schrie: »Du hast m-m-meinen B-B-B-Bruder umgebracht, du D-D-Dreckskerl!«

Ein Geruch nach Abfällen und Scheiße und noch etwas anderem. Etwas viel Schlimmerem. Der Geruch des Monsters. sein Geruch dort unten im Dunkeln unter Derry, wo die Pumpen dröhnten...

Er rannte ins Bad, stieß unterwegs gegen seinen Fernsehsessel und wäre um ein Haar hingefallen. Er schaffte es gerade noch. Einen Augenblick später kniete er vor der Toilette und kotzte sich die Seele aus dem Leib und erinnerte sich plötzlich an Bill Denbroughs Bruder, erinnerte sich an Georgie, mit dem alles angefangen hatte, an Georgies Ermordung, die der Beginn von etwas so Schrecklichem gewesen war, daß er es völlig aus seinem Gedächtnis verdrängt hatte, aber manchmal kehrt die Erinnerung an solche Dinge zurück, o ja, sie kehrt zurück, manchmal kehrt sie zurück.

Der Brechreiz verging, und Rich tastete blindlings nach der Wasserspülung. Wasser rauschte. Sein Abendessen, das er in heißen Klumpen ausgespuckt hatte, verschwand. Er lehnte seine Stirn an das kühle Porzellanbek-ken und begann zu weinen.

Er weinte zum erstenmal seit dem Tod seiner Mutter im Jahre 1975.

Ganz mechanisch hielt er die gewölbten Hände unter seine Augen. Seine Kontaktlinsen glitten heraus und lagen funkelnd auf seinen Handflächen.

Vierzig Minuten später warf er seine Koffer in den Kofferraum seines Wagens und fuhr rückwärts aus der Garage heraus. Er hatte ein Gefühl angenehmer Leere. Das Licht wurde schwächer. Er warf einen Blick auf sein Haus mit der neuen Bepflanzung, auf den Strand, auf das Wasser, das jetzt die Farbe heller Smaragde angenommen hatte, nur von einem schmalen Streifen Gold durchbrochen. Und plötzlich war er überzeugt davon, daß er das alles nie wiedersehen würde, daß er eine wandelnde Leiche war.

»Jetzt geht's nach Hause«, flüsterte Rich Tozier sich selbst zu. »Nach Hause... Gott steh mir bei, nach Hause.«

Er fuhr los und spürte wieder, wie leicht es gewesen war, durch einen unvermuteten Riß in einem - wie er gedacht hatte - festgefügten Leben zu schlüpfen - wie leicht es war, auf die dunkle Seite zu gelangen. Auf die dunkle Seite, wo sich alles Mögliche verbergen konnte.

Verbergen und warten.

3. Ben Hanscom nimmt einen Drink

Wenn jemand am Abend des 27. Mai 1985 den Mann hätte finden wollen, den >Time< vor kurzem als >vielleicht vielversprechendsten jungen Architekten in Amerika< bezeichnet hatte (> Urban Energy Conservation and the Young Turks<, in >Time<, 16. Oktober 1984), so hätte dieser Jemand Omaha in Nebraska auf der westlichen Ausfahrtstraße verlassen und etwa zwanzig Meilen von der Großstadt entfernt nach Norden in Richtung Swedeholm abbiegen müssen. In Swedeholm kreuzen sich die Highways 81 und 92. Man hätte auf Highway 92 und dann auf Highway 63 weiterfahren müssen, wo ein Schild auf die Abzweigungen nach der Kleinstadt Hemingford Home hinweist. Sie besteht praktisch nur aus einer einzigen Hauptstraße. Es gibt dort einen Friseur, einen Drugstore, ein Kino, ein billiges Kaufhaus und eine Bar namens >Red Wheel<. Auf dem kleinen schmutzigen Parkplatz hinter der Bar hätte man ein altes 1968er Cadillac-Kabriolett mit CB-An-tenne und im Innern des >Red Wheel< an der Bar einen schlaksigen Mann in Baumwollkleidung sehen können; einen Mann, der gut zehn Jahre jünger aussah, als er es mit seinen 38 Jahren tatsächlich war.

»Hallo, Mr. Hanscom«, sagte Ricky Lee und breitete eine Papierserviette vor ihm aus. Ricky Lee war ein wenig überrascht. Hanscom war noch nie an einem Abend unter der Woche ins >Red Wheel< gekommen. Hanscom trank hier regelmäßig jeden Freitagabend zwei Bier und jeden Samstagabend vier oder fünf; er fragte immer nach Ricky Lees drei Söhnen; und immer lag unter seinem Bierkrug ein Fünf-Dollar-Schein als Trinkgeld. Er war mit großem Abstand Ricky Lees Lieblingsgast, sowohl als Mensch als auch als interessanter Gesprächspartner. Die zehn Dollar pro Woche (und die 50 Dollar, die in den letzten fünf Jahren zu Weihnachten immer unter dem Bierkrug gelegen hatten) waren eine gute Sache; aber noch viel wertvoller waren die Unterhaltungen mit ihm.