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Obwohl Hanscom ursprünglich aus Neuengland stammte und im Mittelwesten und in Kalifornien studiert hatte, hatte er doch einiges von der Extravaganz eines Texaners an sich. Ricky Lee konnte mit Ben Hanscoms Freitag- und Samstagbesuchen hundertprozentig rechnen, ganz egal, ob Hanscom gerade in New York einen Wolkenkratzer baute (er hatte dort drei Gebäude hingestellt), eine neue Kunstgalerie in Miami oder ein Geschäftsgebäude in Salt Lake City. Er hatte seinen eigenen Lear-Jet und seine private Landebahn auf seinem Grundstück in Junkins. Vor zwei Jahren hatte er einen Auftrag in London ausgeführt - ein neues Kommunikationszentrum für die BBC entworfen und gebaut - ein Gebäude, das in der britischen Presse immer noch heiß umstritten war. (>Abgesehen vom Gesicht meiner Schwiegermutter nach einer durchzechten Nacht das Häßlichste, was ich je gesehen habe<, schrieb ein Reporter in der >Times<; >Vielleicht das schönste Bauwerk, das in den letzten zwanzig Jahren erstellt wurde«, schrieb ein anderer.) Während dieses Auftrags hatte sich Ben Hanscom darauf beschränkt, nur an Samstagabenden ins >Red Wheel< zu kommen. Er verließ London mit der Concorde um 11 Uhr vormittags, hatte er dem faszinierten Ricky Lee erzählt, kam auf dem Kennedy-Airport in New York um 10.15 Uhr an - 45 Minuten vor seinem Abflug in London (»Mein Gott, das ist ja fast wie eine Reise durch die Zeit!« hatte Ricky Lee beeindruckt gesagt), nahm dann ein Taxi zur privaten Landebahn auf Long Island, wo sein Jet stand. Normalerweise landete er so gegen 14.30 Uhr in Junkins. Er machte ein zweistündiges Nickerchen, dann verbrachte er eine Stunde mit seinem Verwalter Markins. Anschließend tafelte er ausgiebig mit Freunden, und dann verbrachte er anderthalb Stunden im >Red Wheel< - immer an der Bar, immer allein, obwohl es weiß Gott genügend Frauen in diesem Teil von Nebraska gab, die nur allzugern mit ihm ins Bett gegangen wären. Dann gönnte er sich sechs Stunden Schlaf, bevor die Reise in umgekehrter Richtung und Reihenfolge wiederholt wurde. Ricky Lee hatte noch keinen Gast erlebt, der von dieser Geschichte nicht beeindruckt gewesen wäre. Vielleicht ist er schwul, hatte einmal eine Frau geäußert. Ricky Lee hatte sie gemustert, das kunstvoll frisierte Haar, die teure Maßkleidung, die Diamantohrringe und den Ausdruck ihrer Augen registriert und aus all dem geschlossen, daß sie irgendwo aus dem Osten - höchstwahrscheinlich aus New York - stammte, hier einen kurzen Pflichtbesuch bei Verwandten oder einer alten Schulfreundin abstattete und es kaum erwarten konnte, wieder wegzukommen. Nein, hatte er erwidert, Mr. Hanscom ist kein Homo. Sie hatte eine Packung Doral-Zigaretten aus ihrer Handtasche geholt, sich eine zwischen die glänzenden roten Lippen gesteckt und gewartet, bis er ihr Feuer gab. Woher wollen Sie das wissen? hatte sie mit leicht ironischem Lächeln gesagt. Ich weiß es einfach, hatte er erwidert. Und das stimmte. Er hätte ihr sagen können: Ich glaube, er ist der einsamste Mensch, dem ich je im Leben begegnet bin. Aber er hatte absolut keine Lust gehabt, das dieser New Yorker Dame auf die Nase zu binden, die ihn betrachtete wie einen komischen, aber ganz originellen Kauz.

»Hallo, Ricky Lee«, sagte Hanscom an diesem Abend. Er sah etwas blaß und verwirrt aus. Ricky Lee wußte, daß er die nächsten sechs oder acht Monate in Colorado Springs verbringen und den Baubeginn des Rocky-Mountains-Kulturzentrum überwachen sollte, eines ausgedehnten Komplexes aus sechs Gebäuden, die gegeneinander versetzt aus dem Abhang eines Berges herausragen sollten. Wenn es erst mal fertig ist, werden manche Leute sagen, es sehe so aus, als hätte ein Riesenkind seine Bausteine auf einer Treppe verstreut, hatte Ben Ricky Lee erzählt. Und sie werden nicht mal ganz unrecht haben. Aber ich glaube, daß es realisierbar ist. Es ist mein bisher ehrgeizigstes Projekt, und der Bau wird verdammt schwierig sein, aber ich glaube, es läßt sich machen.

Ricky Lee hielt es für möglich, daß Mr. Hanscom ein bißchen Lampenfieber hatte. Je berühmter man war, desto mehr wurde man schließlich aufs Korn genommen. Vielleicht hatte er aber auch einfach einen Virus abbekommen - in der ganzen Gegend ging gerade die Grippe um.

Ricky Lee griff nach einem Bierkrug und wollte zum Zapfhahn gehen.

»Nicht, Ricky Lee.«

Ricky Lee drehte sich überrascht um - und plötzlich war er sehr besorgt. Denn Mr. Hanscom sah nicht so aus, als hätte er Lampenfieber oder eine Grippe in den Knochen oder so was Ähnliches. Er sah aus wie ein Mann, der gerade einen furchtbaren Schlag erlitten hat und immer noch versucht zu begreifen, wer oder was ihm diesen Schlag versetzt hat.

Jemand ist gestorben. Er ist nicht verheiratet und spricht nie über seine Familie, aber irgend jemand ist gestorben. Gar kein Zweifel.

Jemand warf eine Münze in die Musicbox, und Barbara Mandrell begann über einen betrunkenen Mann und eine einsame Frau zu singen.

»Ist alles in Ordnung, Mr. Hanscom?«

Ben Hanscom blickte Ricky Lee aus Augen an, die zehn, nein zwanzig Jahre älter zu sein schienen als das übrige Gesicht, und Ricky Lee stellte verblüfft fest, daß in Mr. Hanscoms Haar die ersten grauen Strähnen zu sehen waren. Bisher war ihm das noch nie aufgefallen.

Hanscom lächelte. Es war ein schreckliches, unheimliches Lächeln. Es war so, als hätte eine Leiche gelächelt.

»Ich glaube nicht, Ricky Lee. Nein. Keineswegs.«

Ricky Lee stellte den Bierkrug hin und ging zu Hanscom zurück. Die Bar war - wie immer an Montagen - ziemlich leer; es waren weniger als 20 Gäste da. Annie saß in der Nähe der Küchentür und spielte mit dem Koch Karten.

»Schlechte Nachrichten?« fragte Ricky Lee.

»Schlechte Nachrichten von Zuhause«, bestätigte Hanscom. Er sah Ricky Lee an, aber er schien durch ihn hindurchzublicken.

»Das tut mir sehr leid, Mr. Hanscom.«

»Danke, Ricky Lee.«

Er schwieg eine Zeitlang, und Ricky Lee wollte ihn gerade fragen, ob es einen Todesfall in der Familie gegeben hätte, als Hanscom sagte:

»Was für Whisky haben Sie, Ricky Lee?«

»Für jeden anderen in dieser Bruchbude - Four Roses«, sagte Ricky Lee. »Aber für Sie - Wild Turkey.«

Hanscom lächelte ein klein wenig. »Das ist gut, Ricky Lee. Dann machen Sie jetzt bitte folgendes - füllen Sie diesen Bierkrug mit Wild Turkey.«

»Füllen?« fragte Ricky Lee total verblüfft. »Mein Gott, ich werde Sie hinterher aus der Bar rollen müssen.«

»Nicht heute abend«, sagte Hanscom. »Ich glaube nicht.«

Ricky Lee nahm den Bierkrug - er hatte Ben Hanscom noch nie harten Alkohol trinken sehen - und er holte die Flasche Wild Turkey unter der Bar hervor. Wider Willen war er fasziniert, als er den bernsteinfarbenen Whisky in den Bierkrug goß. Es dürfte das einzige Mal in seinem Leben bleiben, daß er einen Drink dieser Größenordnung einschenkte.

Er stellte ihn vor Hanscom auf die Bartheke, der den mit Whisky gefüllten Bierkrug nachdenklich betrachtete und dann fragte: »Was bekommen Sie für einen Drink wie diesen, Ricky Lee?«

Ricky Lee schüttelte langsam den Kopf und starrte seinerseits auf den Bierkrug, um nicht dem sonderbar leeren Blick jener von dunklen Ringen umgebenen Augen begegnen zu müssen. »Keinen Cent«, sagte er. »Das geht auf Kosten des Hauses.«

Hanscom lächelte wieder. »Nun, in diesem Fall - herzlichen Dank, Ricky Lee. Jetzt werde ich Ihnen etwas zeigen, das ich 1978 in Peru gelernt habe. Ich habe dort mit einem Burschen namens Frank Billings zusammengearbeitet - habe allerhand von ihm gelernt. Billings dürfte der beste Architekt der ganzen Welt gewesen sein. Holte sich irgendein Fieber und starb. Auch Antibiotika konnten ihm nicht helfen. Ich habe diesen Trick von den Indianern gelernt, die an jenem Projekt mitarbeiteten. Sie trinken irgendein einheimisches teuflisches Gesöff, und ich habe nur ganz selten erlebt, daß einer stockbesoffen war, und nie hatte jemand einen Kater. Ich hatte bisher nie den Mut, diese Methode selbst auszuprobieren. Aber heute abend tu' ich's. Bringen Sie mir bitte einige von den Zitronenscheiben dort drüben.«