Ricky Lee konnte ihn nur anschauen. Er hatte keine Ahnung, wovon Hanscom eigentlich redete, aber der Mann hatte Angst, das war unübersehbar. Es paßte nicht so recht zu Ben Hanscom, aber es war eine Tatsache.
»Ich hatte wirklich alles vergessen«, sagte Hanscom und klopfte mit den Knöcheln leicht auf die Theke, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Haben Sie jemals von einem so totalen Gedächtnisschwund gehört, daß man sich nicht einmal mehr bewußt ist, unter Gedächtnisschwund zu leiden?«
Ricky Lee schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht. Aber da saß ich nun heute abend in meinem Auto, und blitzartig kam es mir zu Bewußtsein - und ich erinnerte mich an Mike Hanion, und ich erinnerte mich an Derry...«
»Derry?«
»... aber das war auch schon alles, woran ich mich erinnerte. Es kam mir plötzlich zu Bewußtsein, daß ich nicht einmal mehr an meine Kindheit gedacht hatte seit... seit ich weiß nicht wie langer Zeit. Und dann begann ich mich plötzlich auch an andere Dinge zu erinnern. Beispielsweise, daß ich Bill Denbrough den vierten Silberdollar gegeben habe. Und daß er irgendwas damit gemacht hat.«
»Was hat er denn damit gemacht, Mr. Hanscom?«
Hanscom schaute auf seine Uhr und ließ sich von seinem Barhocker hinabgleiten. Er schwankte ein wenig - aber ganz minimal. Das war alles. »Ich muß mich allmählich auf den Weg machen«, erklärte er. »Ich fliege heute nacht.«
Ricky Lee sah ihn so beunruhigt an, daß er lachen mußte.
»Ich fliege, aber ich steuere nicht selbst. Linienflug.«
»Oh.« Er vermutete, daß seine Erleichterung ihm deutlich im Gesicht geschrieben stand, aber das war ihm egal. »Wohin fliegen Sie denn?«
»Ich dachte, das hätte ich Ihnen erzählt, Ricky Lee. Ich fahre nach Hause. Geben Sie diese Münzen Ihren Kindern.« Er ging auf die Tür zu, und etwas an seinem Gang erschreckte Ricky. Die Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Gresham Arnold, dem kaum jemand nachgetrauert hatte, war plötzlich so frappierend, daß es schon fast übernatürlich wirkte.
»Mr. Hanscom!« schrie er angsterfüllt.
Hanscom drehte sich um, und Ricky Lee trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Er streifte mit dem Rücken die Regale, und die Flaschen begannen zu reden, in jener spröden Sprache, die Glaswaren eigen ist. Er hatte unwillkürlich einen Schritt nach rückwärts getan, weil er plötzlich überzeugt war, daß Ben Hanscom tot war, irgendwo tot herumlag und daß dies hier ein Geist war, der ihn heute abend im >Red Wheel< besucht hatte. Einen Moment - einen ganz kurzen Moment - glaubte er, durch den Mann hindurch Tische und Stühle sehen zu können.
»Was ist, Ricky Lee?«
»N-n-nichts.«
Ben Hanscom schaute Ricky Lee aufmerksam an. Er hatte violette Ringe unter den Augen, seine Wangen brannten vom Alkohol, und seine Nase war rot und wund.
»Nichts«, flüsterte Ricky Lee noch einmal, aber er konnte seine Augen nicht von diesem Gesicht abwenden. Es war das Gesicht eines Menschen, der unwiderruflich verdammt ist und jetzt dicht vor der rauchenden Seitenpforte der Hölle steht.
»Ich war fett, und wir waren arm«, sagte Ben Hanscom. »Daran erinnere ich mich. Und ich erinnere mich, daß Bill Denbrough mir mit einem Silberdollar das Leben gerettet hat. Und ich bin halb verrückt vor Angst bei dem Gedanken, woran ich mich sonst noch vor Ablauf dieser Nacht erinnern könnte, aber diese wahnsinnige Angst wird die Erinnerungen nicht aufzuhalten vermögen. Sie schwellen in meinem Kopf schon an, nehmen immer mehr Raum darin ein. Doch ich fahre trotzdem, denn alles, was ich erreicht habe, alles, was ich heute bin, verdanke ich irgendwie dem, was wir damals getan haben, und man muß für alles, was man bekommt, bezahlen. Vielleicht läßt Gott uns deshalb als Kinder auf die Welt kommen - weil Er weiß, daß man sehr oft hinfallen, daß man sehr oft bluten muß, bevor man diese einfache Lektion lernt. Man bezahlt für das, was man bekommt, und man besitzt nur das richtig, wofür man bezahlt
hat... und früher oder später wird einem unweigerlich die Rechnung präsentiert.«
»Sie werden doch aber am Wochenende wieder hiersein, nicht wahr?« fragte Ricky Lee mit tauben Lippen. »Sie werden doch am Wochenende wie immer hiersein, oder?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Hanscom und lächelte - ein schreckliches Lächeln. »Diesmal muß ich beträchtlich weiter als nach London, Ricky Lee.«
»Mr. Hanscom...!«
»Geben Sie die Münzen Ihren Kindern«, sagte Hanscom noch einmal und entschwand in die Nacht.
»Was in aller Welt...«, setzte Annie zu einer Frage an, aber Ricky Lee ignorierte sie. Er ging zu einem der Hinterfenster. Er sah, wie die Scheinwerfer des Cadillacs aufleuchteten, hörte den Motor laufen. Das Auto fuhr vom Parkplatz, und hinter ihm stieg eine Staubwolke hoch, die der Nachtwind rasch verwehte.
»Er wird sich umbringen«, sagte Annie leise neben Ricky Lees Ellbogen, und obwohl er vor weniger als fünf Minuten denselben Gedanken gehabt hatte, wandte er sich jetzt ihr zu und schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich nicht«, sagte er. »Aber so, wie er heute abend aussah, wäre es vielleicht besser für ihn, wenn er es täte.«
»Was hat er Ihnen erzählt?«
Er schüttelte den Kopf. Ben Hanscoms Sätze ließen sich zu keinem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. »Nichts von Bedeutung. Aber ich glaube nicht, daß wir ihn jemals wiedersehen werden.«
4. Eddie Kaspbrak nimmt seine Medizin
Wenn Sie alles über einen Amerikaner oder eine Amerikanerin der Mittelschicht wissen wollen, müssen Sie unbedingt einen Blick in sein oder ihr Arzneimittelschränkchen werfen, hat einmal jemand gesagt. Aber, um Himmels willen, erschrecken Sie nicht allzusehr, wenn Sie in dieses hineinschauen, dessen Schiebetür Eddie Kaspbrak gerade öffnet, wodurch barmherzigerweise auch sein weißes Gesicht und seine weit aufgerissenen Augen im Türspiegel entschwinden.
Auf dem obersten Regal sind Anacin, Excedrin, Excedrin P. M., Contac-Kapseln, Gelusil, Tylenol und eine große blaue Flasche Vicks. Daneben eine Flasche Vivarin, eine Flasche Serutan und zwei Flaschen >Philips Milk of Magnesia< - die normale, die wie flüssige Kreide schmeckt, und die neue mit Pfefferminzgeschmack, die aber ebenfalls wie flüssige Kreide schmeckt. Dicht neben einer großen Flasche Rolaids steht eine große Flasche Tums, und daneben eine Flasche Di-Gel mit Orangengeschmack.
Zweites Regaclass="underline" Hier kann man in Vitaminen schwelgen. Vitamin E, Vitamin C, Vitamin C mit Hagebutte, Vitamin B; verschiedene Arten von Multi Vitamintabletten. Dazu noch Eisenpräparate und der Ausgewogenheit halber auch noch eine große braune Flasche Geritol.
Drittes Regaclass="underline" Hier ist ein breites Sortiment verschiedenster Tabletten, Cremes, Gelees und Geheimmittelchen anzufinden. Ex-Lax und >Carters
Little Pills< - Abführmittel. Fleet-Zäpfchen und >Preparation H< gegen Durchfall bzw. Verdauungsbeschwerden. Daneben Formel 44 gegen Husten, Nyquil und Dristan gegen Erkältungen; eine große bonbonrosafarbene Flasche Pepto-Bismol für Eddies empfindlichen Magen. Lutschtabletten gegen einen rauhen Hals. Vier verschiedene Mundspülmitteclass="underline" Chlora-septic, Sepacol, Sepestat in der Sprühflasche und natürlich das gute alte Li-sterine. Visine und Murine für die Augen. Für die Haut Cortaid-Salbe, Nes-porin-Salbe, eine Tube Oxy-5, eine Plastikflasche Oxy-Wash und Tetracyclin-Pillen. Etwas abseits stehen drei undurchsichtige dunkle Flaschen Stein-kohlenteer-Shampoo.
Das unterste Regal ist fast leer, aber dafür ist das Zeug, das dort liegt, besonders wirksam. Hier findet man Valium und Percodan und Elavil und Darvon Complex. Außerdem eine weitere Lutschtablettendose, in der aber keine Lutschtabletten, sondern sechs Quaaludes liegen.
Eddie Kaspbrak glaubt an das gute alte Pfadfindermotto: >Allzeit bereite
Er hat eine blaue Reisetasche bei sich, hält sie unter die einzelnen Regale und fegt mit zitternden Händen Flaschen, Tuben, Döschen und Schachteln hinein. Er könnte sie natürlich sorgfältig aus dem Schränkchen holen, jeweils eine Handvoll, aber das würde erstens zu lange dauern, und außerdem würden seine zitternden Hände ihn verraten - die Flaschen würden gegeneinanderklirren, in jener spröden Sprache, die Glaswaren eigen ist, und dadurch würde seine Angst nur noch größer.