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»Eddie, was...«

Er machte ihr ein Zeichen, still zu sein, und bestellte ein Taxi. Es würde in etwa einer Viertelstunde hiersein.

Er legte den Hörer auf, griff nach seinem Aspirator, der auf dem Tisch neben der Couch lag, setzte ihn an den Mund und drückte auf die Flasche. Atmete den schrecklichen Geschmack tief ein. Das Erstickungsgefühl wurde etwas schwächer; er atmete wieder tief ein und hörte plötzlich Stimmen, wahnwitzige Geisterstimmen.

Haben Sie meinen Brief nicht erhalten?

Doch, Mrs, Kaspbrak, aber...

Nun, Mr. Black, für den Fall, daß Sie nicht lesen können, möchte ich es Ihnen noch einmal persönlich wiederholen. Sind Sie bereit?

Mrs. Kaspbrak...

Hören Sie jetzt mal aufmerksam zu: Mein Eddie kann nicht am Turnunterricht teilnehmen. Ich wiederhole - er kann NICHT am Turnunterricht teilnehmen. Eddie ist sehr zart, und wenn er rennt... oder springt...

Mrs. Kaspbrak, ich habe die Befunde von Eddies letzter Schuluntersuchung im Büro - Sie wissen ja, diese Untersuchungen sind gesetzlich vorgeschrieben. Im Befund heißt es, daß Eddie für sein Alter ein bißchen klein ist, daß ihm aber ansonsten nichts fehlt. Um ganz sicherzugehen, habe ich noch Ihren Hausarzt angerufen, und er hat mir bestätigt...

Wollen Sie mich etwa als Lügnerin hinstellen, Mr. Black? Ist es das? Nun, Ed- die steht hier, direkt neben mir! Hören Sie, wie er atmet? HÖREN Sie es?

Mom... bitte... mir geht's gut...

Eddie, du weißt doch, daß man Erwachsene nicht unterbricht. Das habe ich dir doch beigebracht!

Ich höre es, Mrs. Kaspbrak, aber...

Aha, Sie hören es! Ausgezeichnet! Ich dachte schon, Sie wären taub! Er hört sich an wie ein Lastwagen, der langsam einen Berg hochkeucht. Stimmt's? Und wenn das kein Asthma ist...

Mom, ich...

Sei still, Eddie, unterbrich mich nicht schon wieder! Wenn das kein Asthma ist Mr. Black, dann bin ich Königin Elisabeth!

Mrs. Kaspbrak, Eddie fühlt sich im Turnunterricht meistens sehr wohl und ist glücklich. Er spielt gern alle möglichen Spiele, und er kann auch ziemlich schnell rennen. Bei meiner Unterhaltung mit Ihrem Hausarzt ist das Wort >psychosoma-tisch< gefallen. Haben Sie schon einmal die Möglkhkeit in Betracht gezogen, daß...

... daß mein Sohn verrückt ist? Ist es das, was Sie mir sagen wollen?

WOLLEN SlE SAGEN, DASS MEIN SOHN VERRÜCKT IST?

Nein, aber...

Er ist zart.

Mrs. Kaspbrak...

Mein Sohn ist sehr zart.

Mrs. Kaspbrak, Ihr Arzt hat bestätigt, daß Eddie...

»... physisch nichts fehlt«, sagte Eddie schaudernd. Zum erstenmal seit Jahren hatte er wieder an jene demütigende Szene in der Turnhalle der Fairmount-Schule gedacht, als seine Mutter den Turnlehrer Mr. Black angebrüllt hatte, während er neben ihr keuchte und vor Scham am liebsten in den Fußboden gesunken wäre, weil dieser Auftritt vor den Augen seiner Klassenkameraden stattfand. Und er wußte genau, daß Mikes Anruf noch weitere Erinnerungen nach sich ziehen würde. Er spürte schon, wie

sie herandrängten - Erinnerungen, die noch viel schlimmer waren als jene, die ihm gerade eingefallen war.

»Physisch fehlt ihm nichts«, wiederholte er, zog tief die Luft ein und schob den Aspirator in die Tasche.

»Eddie«, rief Myra, »bitte sag mir doch, was los ist!«

Er betrachtete sie, die glänzenden Tränen auf ihren Wangen, die wie plumpe, unbehaarte Tiere ineinander verkrampften Hände. Einmal, kurz vor seinem Heiratsantrag, hatte er das Foto, das sie ihm geschenkt hatte, neben ein Foto seiner Mutter gelegt, die fünf Jahre zuvor im Alter von 61 Jahren an Herzversagen gestorben war. Damals hatte sie über 400 Pfund gewogen - 406 Pfund, um genau zu sein; aber das Foto war 1945 aufgenommen worden, zwei Jahre vor seiner Geburt (Er war ein sehr kränkliches Baby, flüsterte die Stimme seiner Mutter. Wir dachten oft, er würde nicht am Leben bleiben...), als seine Mutter 28 Jahre alt gewesen war.

Er vermutete, daß das sein letzter verzweifelter Versuch gewesen war, sich selbst davon abzuhalten, die damals ebenfalls 28jährige Myra McCand-less zu heiraten.

Die Frauen auf den Fotos hätten Schwestern sein können, so groß war die Ähnlichkeit. Eddie hatte dagesessen und von einer zur anderen geschaut, von Mutter zu Myra und wieder zurück zu Mutter, und er hatte sich geschworen, es nicht zu tun, weil es ein Freudscher Kreis wäre, nichts anderes. Er würde es nicht tun. Er würde mit Myra brechen... es ihr sanft beibringen, denn sie war wirklich sehr lieb und hatte wenig Erfahrungen mit Männern gehabt (er selbst mit Frauen übrigens ebenfalls) ... und dann würde er vielleicht... Tennisunterricht... und er könnte Mitglied im Schwimmklub des U. N. Plaza werden... vielleicht...

Aber er hatte sie dann doch geheiratet. Die alte Lebensweise hatte ihn doch schon zu stark geprägt, die Lebensweise seiner Mutter, und während er sie allein auf sich gestellt vielleicht noch hätte abschütteln können, hatte Myra ihn durch ihre liebevolle Fürsorge dazu verurteilt, hatte ihn mit ihrer Sanftheit eingefangen, ihn mit ihrer übertriebenen Angst um ihn für immer und ewig festgenagelt.

Myra hatte wie seine Mutter die verhängnisvolle höchste Stufe von Verständnis erreicht. Eddie war zart, Eddie mußte beschützt werden. An Regentagen stellte Myra seine Gummischuhe sorgsam neben den Garderobenständer im Flur. Neben seinem Teller mit ungebuttertem Weizentoast lag jeden Morgen ein riesiges Sortiment bunter Vitaminpillen. Myra verstand ihn - wie seine Mutter. Er hatte wirklich keine Chance gehabt. Er war dreimal nach Hause zurückgekehrt, und nachdem seine Mutter in einem Privatzimmer des Madison Avenue Receiving gestorben war (damals hatte er sich bereits solche Dinge wie Privatzimmer leisten können), war er zum vierten und - wie er damals geglaubt hatte - letzten Male nach Hause zurückgekehrt - zu Myra MacCandless, die eine Schwester seiner Mutter hätte sein können, magisch angezogen vom verhängnisvollen hypnotischen Schlangenauge ihres Verständnisses.

Für immer nach Hause zurückgekehrt. Damals hatte er das geglaubt.

Aber vielleicht habe ich mich geirrt, dachte er. Vielleicht ist dies nicht mein Zuhause, vielleicht war es das nie - vielleicht ist mein Zuhause dort, wo ich jetzt hinfahre. Zuhause ist der Ort, wo man schließlich dem ETWAS im Dunkeln ins Auge sehen muß.

et schauderte hilflos, so als wäre er ohne seine Gummischuhe im Regen herumgelaufen und wäre völlig durchfroren.

»Bitte sag's mir, Eddie.«

Sie begann wieder zu weinen. Tränen waren ihre letzte Waffe, wie sie auch die letzte Waffe seiner Mutter gewesen waren; eine sanfte, lähmende Waffe. Wenn jemand leicht verletzbar ist, hatte er festgestellt, bekommt man schließlich Angst davor, ihn zu verletzen. Tränen konnten zur Waffe werden.

Und mit einer Art Schrecken erkannte er, daß sie diese Waffe jetzt einsetzte ... und Erfolg damit hatte.

Aber das durfte er nicht zulassen. Er liebte sie, aber diesmal durfte er sich nicht dazu bringen lassen, daheim zu bleiben. Es wäre zu einfach, sich nur auszumalen, wie der Zug durch die Dunkelheit nach Norden braust, der Regen über die schmutzigen Fensterscheiben rinnt, wie er angstgepeinigt im Abteil sitzt, den Aspirator in der Manteltasche, die Reisetasche mit Medikamenten zwischen den Beinen. Sie würde ihn nach oben führen, ihm mit Aspirintabletten und einer Alkoholabreibung ihre Liebe beweisen, und vielleicht würde eine ihrer rosigen, nicht unangenehmen Hände nach unten gleiten und ihn streicheln, eine Erektion bewirken und...