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Mike drehte sich um. »Ben!« rief er angstvoll. »Komm! Wir verlieren dich sonst noch!« Ben konnte die letzten Worte kaum verstehen; sie verwehten, als würden die anderen von einem Schnellzug davongetragen.

Erschrocken rannte er los. Hinter ihm schlug die Tür zu. Er schrie... und dicht hinter ihm schien etwas durch die Luft zu sausen. Er drehte sich um, aber nichts war zu sehen. Trotzdem war er überzeugt davon, daß etwas ihn fast gepackt hatte.

Er rannte quer durch den Raum und holte schließlich die anderen ein. Er keuchte und war völlig außer Atem. Er hätte schwören können, mindestens eine halbe Meile gerannt zu sein, vielleicht auch mehr; aber als er zurückblickte, war die Tür nicht einmal zehn Fuß entfernt.

Mike packte ihn so fest an der Schulter, daß es weh tat.

»Du hast mir einen Mordsschreck eingejagt«, sagte er mit schwankender Stimme. Richie, Stan und Eddie schauten ihn fragend an. »Er sah ganz klein aus«, erklärte Mike. »So als wäre er eine Meile entfernt.«

»Bill!« rief Ben eindringlich.

Bill, der gerade die geschlossene Tür am anderen Ende des Wohnzimmers betrachtet hatte, drehte sich um.

»Wir müssen dicht beieinanderbleiben«, keuchte Ben. »Dieses Haus... hier stimmt nichts. Es ist wie ein Spiegelkabinett beim Jahrmarkt oder wie ein Labyrinth oder was weiß ich. Jedenfalls ist es kein normales Haus. Wir werden einander verlieren, wenn wir nicht aufpassen. Und ich glaube... ich glaube, Es will, daß wir voneinander getrennt werden.«

Bill sah ihn einen Augenblick lang mit blassem Gesicht und schmalen Lippen an. »In Ordnung«, sagte er. »Alle d-d-dicht b-b-beisammenb-b-b-bleiben! K-Keine Alleing-g-gänge!«

Alle nickten ängstlich und scharten sich um die geschlossene Tür. Stan tastete nach dem Vogelbuch in seiner Gesäßtasche. Eddie hielt den Aspirator in einer Hand, preßte ihn zusammen, lockerte seinen Griff und preßte ihn wieder zusammen, wie ein 98 Pfund wiegender Schwächling, der versucht, seine Muskeln mit einem Tennisball zu trainieren.

Bill öffnete die Tür. Sie betraten einen viel schmaleren Gang. Die Tapete, auf der Rosenranken und Elfen mit grünen Käppchen zu sehen waren, lösten sich in großen schmutzigen Streifen vom schimmligen Verputz ab. Gelbe Wasserflecken verunstalteten die Decke. Trübes Licht fiel durch ein schmutzverkrustetes Fenster am Ende des Ganges ein.

Plötzlich schien der Gang sich auszudehnen. Die Decke hob sich und stieg in die Höhe wie eine unheimliche Rakete. Die Türen wuchsen mit der Decke, wurden gestreckt wie ein Rahmbonbon. Die Gesichter der Elfen wurden lang und schmal und verzerrten sich. Ihre Augen waren jetzt blutende schwarze Löcher.

Stan schrie auf und schlug sich die Hände vors Gesicht.

»Es ist n-n-nicht r-r-r-r-REAi.!« schrie Bill.

»Doch!« schrie Stan zurück. Er hatte sich die weißen geballten Fäuste in die Augen gebohrt. »Es ist real, das weißt du selbst, o Gott, ich werde verrückt, das ist verrückt...«

»S-S-SEHT h-her!« brüllte Bill nicht nur Stan, sondern sie alle an, und Ben, dem ganz schwindlig war, beobachtete, wie Bill sich hinabbeugte, alle Muskeln anspannte und dann nach oben schnellte. Seine geballte linke Faust schien ins Leere zu stoßen... aber ein lautes Wwumml ertönte. Verputz rieselte herab, obwohl doch keine Decke mehr da war... und dann war sie plötzlich wieder an der ursprünglichen Stelle. Der Gang war wieder nichts weiter als ein schmaler, niedriger, schmutziger stinkender Gang. Bill stand mit flammenden Augen da und saugte an seiner blutenden Faust, die weiß vom Verputz war. Sie hatte in der Decke einen deutlich sichtbaren Abdruck hinterlassen.

»N-N-Nicht r-r-r-r-real«, sagte er, an Stan und alle anderen gewandt. »N-Nur ein T-T-Trugbild. S-So was wie eine H-H-Halloween-Maske.«

»Für dich vielleicht«, murmelte Stan tonlos, mit schreckensbleichem Gesicht. Er schaute um sich, als wüßte er nicht mehr genau, wo er war. Bens Freude über Bills Sieg verflog schlagartig, als er sah, in welchem Zustand Stan war, als er den Angstschweiß roch, der Stan aus allen Poren drang. Stan war einem Nervenzusammenbruch nahe. Bald würde er hysterisch werden, vielleicht einen Schreikrampf bekommen - und was würde dann mit ihnen allen geschehen?

»Für dich«, wiederholte Stan. »Aber wenn ich das gleiche versucht hätte, wäre die Wirkung gleich Null gewesen. Denn... du hast deinen Bruder, Bill, aber ich habe nichts.« Er blickte zurück ins Wohnzimmer, das jetzt in dunkelbraunen Rauch oder Nebel gehüllt zu sein schien, der so dicht war, daß die Tür, durch die sie es betreten hatten, kaum noch zu erkennen war; dann betrachtete er den schmutzigen Gang, in dem sie standen, und der trotz des einfallenden Lichts düster und unheimlich wirkte. Auf der schimmligen Tapete tanzten die Elfen unter Rosenranken herum. Durch die schmutzigen Scheiben am Ende des Ganges fiel etwas Sonne ein, und Ben wußte, wenn sie dorthin gingen, würden sie tote Fliegen sehen... vielleicht weitere Flaschenscherben... und was dann? Würde sich unter ihren

Füßen der Boden auftun und sie verschlingen, würden sie in eine tödliche Finsternis stürzen, wo gierige Finger nach ihnen greifen würden? Stan hatte völlig recht. O Gott, warum waren sie nur in seine Behausung gekommen, mit nichts weiter als zwei albernen Silberkugeln und einer Schleuder?

Ben sah, wie Stans Panik alle ansteckte, wie sie sich ausbreitete wie ein Grasfeuer bei starkem Wind; sie ließ Eddies Augen fast aus den Höhlen treten; sie riß Bevs Mund zu einem lautlosen Schrei auf; sie ließ Richie seine Brille mit beiden Händen hochschieben und um sich starren, als säße ihm der Teufel im Nacken.

Sie waren jetzt nahe daran, die Flucht zu ergreifen; Bills Warnung, unbedingt zusammenzubleiben, hatten sie fast vergessen. Sie lauschten nur noch den stürmischen Winden der Panik, die ihnen um die Ohren heulten. Und wie im Traum hörte Ben Miß Davis, die junge Bibliothekarin, den kleinen Kindern vorlesen: Wer trippelt und trappelt da über meine Brücke? Und er sah sie, die Kleinen, wie sie sich gespannt vorbeugten, mit gesammelten, ernsten Gesichtern, wie ihre Augen die ewige Faszination des Märchens widerspiegelten: Wird das Ungeheuer besiegt werden... oder wird Es die Guten auffressen?

»Ich habe nichtsl« schrie Stan, und er sah sehr klein aus, fast klein genug, um durch einen der Risse im Holzboden zu verschwinden. »Du hast deinen Bruder; ich aber habe gar nichts.'.«

»D-D-Doch«! schrie Bill zurück. Er packte Stan, und Ben glaubte einen Moment lang, er wollte ihm eine Ohrfeige geben, und er stöhnte in Gedanken: Nein, Bill, bitte, das ist Henrys Methode, wenn du das tust, wird Es uns alle auf der Stelle umbringen...

Aber Bill schlug Stan nicht. Er drehte ihn nur grob herum und riß das dicke Taschenbuch aus der Gesäßtasche von Stans Jeans.

»Gib es her!« schrie Stan und brach in Tränen aus. Die anderen wichen etwas vor Bill zurück, dessen Augen jetzt Blitze schleuderten. Seine Stirn glühte, und er hielt Stan das Buch hin wie ein Priester das Kreuz.

»Du h-h-h-hast d-d-deine V-V-V-Vö-Vö-Vö...«

Er hob den Kopf; seine Halsmuskeln traten hervor wie dicke Taue; sein Adamsapfel bewegte sich krampfhaft auf und ab. Ben hatte Mitleid mit seinem Freund Bill Denbrough, er hatte Angst um ihn; aber gleichzeitig fühlte er sich wunderbar erleichtert. Hatte er an Bill gezweifelt? Und die anderen?

O Bill, sag's, bitte, kannst du es nicht sagen?

Und irgendwie brachte Bill es fertig. »Deine V-V-V-VöGEL!« brüllte er so laut, daß das ganze Haus zu erbeben schien. »Deine V-V-VöGEi! Du hast deine VÖGEL!«

Er warf Stan das Buch zu. Stan fing es auf und sah Bill stumm an. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er umklammerte das Buch so fest, daß seine Finger weiß wurden. Bill sah erst ihn, dann die anderen ernst an.