Bill nickte.
»Könnte mir jemand von euch sein Hemd geben?« fragte Beverly und errötete noch mehr. Bill warf ihr einen Blick zu, und auch ihm schoß plötzlich das Blut in die Wangen. Er wandte rasch die Augen ab, aber der kurze Moment hatte genügt, um Ben erkennen zu lassen, daß Bill Beverly plötzlich auf eine Weise wahrgenommen hatte wie bisher nur er selbst.
Auch die anderen hatten hingesehen und ihre Blicke sofort wieder verlegen abgewandt. Richie hüstelte hinter vorgehaltener Hand. Stan errötete. Und Mike Hanion trat einen Schritt zurück, so als fürchtete er sich vor dem Anblick ihrer weißen Haut und der kleinen Brust, die zwischen den Fetzen ihrer Bluse zum Vorschein kam.
Beverly warf den Kopf zurück und schüttelte ihre Haarmähne. Sie hatte immer noch hochrote Wangen, aber ihr liebliches Gesicht drückte jetzt Stärke aus.
»Ich kann nichts dafür, daß ich ein Mädchen bin«, sagte sie, »oder daß ich oben herum allmählich erwachsen werde... könnte ich jetzt vielleicht irgendein Hemd haben?«
»K-K-Klar«, sagte Bill und zog sein weißes T-Shirt aus, unter dem sein schmaler Brustkorb, die einzelnen Rippen und die braungebrannten sommersprossigen Schultern zum Vorschein kamen. »H-H-Hier.«
»Danke, Bill«, sagte sie, und für einen Moment blickten sie einander tief in die Augen. Diesmal schaute Bill nicht weg. Sein Blick war fest, erwachsen. »K-K-Keine Ursache.«
Viel Glück, Big Bill, dachte Ben und wandte sich von diesem Blick ab, der ihm weh tat, der ihn tiefer verletzte als irgendein Vampir oder Werwolf das jemals vermocht hätte. Wenn es nun mal so sein soll. Aber du wirst sie nie so innig lieben wie ich. Niemals.
Beverly wandte sich von ihnen ab und zog ihre Bluse aus. Ben erlaubte sich einen schmerzlich süßen Blick auf ihren nackten Rücken, auf die glatte weiße Haut, unter der die Wirbelsäule durchschimmerte, dann schaute er rasch weg. Als er wieder hinsah, stand sie in Bills T-Shirt da, das ihr fast bis zu den Knien reichte. Ihre zerrissene Bluse hielt sie in der Hand. Hoffentlich schaut niemand sie auf dem Heimweg genau an, dachte Ben zerstreut. In diesem Aufzug erregt sie sonst bestimmt Aufsehen.
»G-G-Gehen w-wir«, sagte Bill. »F-Für heute habe ich w-w-wirklich genug.«
Alle waren völlig seiner Meinung.
11
Eine Stunde später saßen sie alle in ihrem Klubhaus. Falltür und Fenster waren geöffnet. Es war kühl da unten, und in den Barrens herrschte an diesem Tag wunderbare Stille. Sie redeten nicht viel. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Richie und Bev zogen abwechselnd an einer 25-garette. Eddie benutzte einmal kurz seinen Aspirator. Mike nieste mehrmals und entschuldigte sich. Er sagte, er habe sich erkältet.
Ben wartete ständig darauf, daß das verrückte Erlebnis im Haus auf der Neibolt Street die typischen Merkmale eines Traumes zeigen würde.
Es wird nach und nach zurückweichen und auseinanderfallen, dachte er, so wie böse Träume es immer tun. Man wacht keuchend und in Schweiß gebadet auf, aber eine Viertelstunde später kann man sich schon nicht mehr an den Inhalt des Traums erinnern. Doch das geschah nicht. Alles was passiert war, angefangen mit seinem mühsamen Einstieg in den Keller bis hin zu jenem Moment, als Bill mit dem Küchenstuhl ein Fenster eingeschlagen hatte, damit sie gleich im Erdgeschoß aus dem Haus gelangen konnten, blieb in seinem Gedächtnis ganz klar und deutlich eingeprägt. Es war eben kein Traum gewesen. Die blutverkrustete Wunde auf seiner Brust und seinem Bauch war kein Traum, auch wenn seine Mutter sie nicht würde sehen können.
Schließlich stand Beverly auf. »Ich muß nach Hause«, sagte sie. »Ich möchte mich umziehen, bevor meine Mutter heimkommt. Wenn sie mich in einem Jungenhemd sieht, bringt sie mich um.«
»Bringt sie Sie um, Senhorita«, stimmte Richie zu.
»Piep-piep, Richie.«
Bill sah sie ernst an.
»Ich bring' dein T-Shirt wieder mit, Bill.«
Er winkte ab, um zu zeigen, daß das nicht so wichtig war.
»Bekommst du Ärger, wenn du ohne Hemd heimkommst?«
»N-Nein«, sagte Bill. »S-Sie n-n-nehmen s-s-s-sowieso kaum N-N-Notiz von m-mir.«
Sie nickte und biß sich auf die volle Unterlippe, ein zehnjähriges Mächen, das für sein Alter ziemlich groß und einfach wunderhübsch war.
»Was geschieht als nächstes, Bill?«
»Ich w-w-weiß nicht«, gab Bill zu.
»Vorbei ist es doch nicht, oder?«
Bill schüttelte den Kopf.
»Ich glaube«, sagte Ben, »daß Es es von jetzt an noch mehr auf uns abgesehen haben wird.«
»Also weitere Silberkugeln?« fragte sie ihn. Er konnte es kaum ertragen, ihrem Blick zu begegnen. Ich liebe dich, Beverly... laß mir nur dieses eine. Du kannst Bill haben oder die ganze Welt oder was immer du brauchst. Nur laß mir dieses eine, und es wird mir genügen, glaube ich.
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Wir könnten wieder welche machen, aber...«
Er zuckte die Achseln, ohne seinen Satz zu beenden. Er konnte seine Gedanken und Gefühle nicht ausdrücken, nicht in Worte fassen - daß das, was sie erlebten, Ähnlichkeit mit einem Monsterfilm hatte, aber doch keiner war. Die Mumie hatte irgendwie anders ausgesehen als im Film... wesentlich realer. Und dasselbe traf auch auf den Werwolf zu - das konnte er bezeugen, denn er hatte das Ungeheuer aus einer so lähmenden Nähe gesehen, wie das in keinem Film möglich war, er hatte seine Hände in sein struppiges, verfilztes Fell gegraben, er hatte in einem seiner grünlichgelben Augen einen kleinen unheilvollen orangefarbenen Feuerkreis gesehen (wie einen Pompon!). Diese Dinge waren... sie waren real gewordene Träume. Und sobald sie real wurden, hatte der Träumer keine Macht mehr über sie, sie verselbständigten sich und wurden zu tödlichen Wesen, die zu unabhängigem Handeln fähig waren. Die Silberkugeln hatten gewirkt, weil sie alle sieben geglaubt hatten, daß sie wirken würden. Sie hatten auch gewirkt... aber sie hatten Es nicht getötet. Und beim nächsten Mal könnte Es in einer neuen Gestalt zu ihnen kommen, in einer Gestalt, gegen die die Silberkugeln nichts ausrichten können, über die sie keine Macht haben.
Macht, Macht, dachte Ben, während er Beverly betrachtete. Das konnte er im Moment ungehemmt tun, denn sie und Bill sahen einander gerade wieder an und waren ganz versunken. Es war nur ein kurzer Augenblick, aber Ben kam er sehr lang vor. Es läuft immer auf Macht hinaus. Ich liebe Beverly Marsh, und deshalb hat sie Macht über mich. Sie liebt Bill Denbrough, und deshalb hat er Macht über sie. Aber ich glaube, er fängt jetzt auch an, sie zu lieben. Vielleicht war es der flüchtige Blick auf ihre Brust oder ihren nackten Rücken. Vielleicht auch einfach die Art und Weise, wie sie manchmal aussieht, bei einem bestimmten Licht; vielleicht sind es auch ihre Augen. Spielt keine Rolle. Jedenfalls, wenn er anfängt, sie zu lieben, so wird sie Macht über ihn gewinnen. Superman hat Macht, außer wenn irgendwo in seiner Nähe Krypton ist. Batman hat Macht, obwohl er weder fliegen noch durch Wände hindurch sehen kann. Meine Mutter hat Macht über mich, und ihr Chef in der Fabrik hat Macht über sie. Jeder hat in irgendeiner Weise Macht... vielleicht mit Ausnahme kleiner Kinder und Babys.
Dann fiel ihm ein, daß sogar kleine Kinder und Babys eine gewisse
Macht hatten: Sie konnten schreien, bis man etwas unternehmen mußte, um sie zur Ruhe zu bringen.
»Ben?« fragte Beverly und wandte sich wieder ihm zu. »Hast du deine Zunge verschluckt?«
»Was? Nein. Ich habe über Macht nachgedacht. Über die Macht der Silberkugeln.«
Bill sah ihn aufmerksam an.
»Ich habe mich gefragt, woher diese Macht kam.«
»I-I-Ich...«, begann Bill und verstummte. Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über sein Gesicht.