Выбрать главу

»Ich muß jetzt wirklich gehen«, sagte Beverly. »Ich seh' euch doch bald, oder?«

»Na klar, komm morgen wieder her«, sagte Stan. »Wir werden Eddies zweiten Arm brechen«.

Alle lachten. Eddie tat so, als wollte er Stan seinen Aspirator an den Kopf werfen.

»Also, bis dann«, sagte Beverly und kletterte aus dem Klubhaus heraus.

Ben sah Bill an und stellte fest, daß er nicht in das Lachen eingestimmt hatte. Sein Gesicht hatte immer noch jenen nachdenklichen Ausdruck, und Ben wußte genau, daß man zwei- oder dreimal laut seinen Namen rufen müßte, bevor er reagieren würde. Und er wußte, worüber Bill nachgrübelte; auch ihn selbst beschäftigte diese Frage in der nächsten Zeit immer wieder. Natürlich nicht ständig. Er hängte für seine Mutter Wäsche auf, er spielte mit den anderen in den Barrens, und als es in den ersten vier Augusttagen sehr viel regnete, spielten sie bei Richie zu siebt stundenlang hingebungsvoll Parcheesi. Seine Mutter erzählte ihm, sie halte Pat Nixon für die hübscheste Frau Amerikas, und sie war entsetzt, als Ben sich für Marilyn Monroe aussprach (abgesehen von der Haarfarbe hatte Bev seiner Meinung nach Ähnlichkeit mit Marilyn Monroe). Er hatte Zeit, um soviel Süßigkeiten zu essen, wie ihm nur unter die Hände kamen, und er hatte Zeit, um auf der hinteren Veranda zu sitzen und >Lucky Star and the Moons ofMercury< zu lesen. Für all das hatte er Zeit, während die Wunde, die der Werwolf ihm zugefügt hatte, allmählich verheilte, denn das Leben ging weiter, und mit zehn Jahren hatte man, so intelligent man auch sein mochte, noch keinen richtigen Sinn für Zukunftsperspektiven. Er konnte mit dem, was in der Neibolt Street passiert war, durchaus leben. Schließlich war die ganze Welt voller Wunder.

Doch ab und zu beschäftigte ihn die Frage: Die Macht der Kugeln - woher kommt diese Macht? Woher kommt jede Form von Macht überhaupt? Wie kann man Macht erlangen? Und wie setzt man sie ein?

Er hatte das Gefühl, daß ihr Leben von diesen Fragen abhängen könnte. Und dann kam ihm eines Abends im Bett, während der Regen einschläfernd auf das Dach und an die Fensterscheiben trommelte, die Erkenntnis, daß es noch eine andere Frage gab, eine vielleicht noch wichtigere. Es hatte irgendeine wirkliche Gestalt, die er fast gesehen hatte. Die wahre Gestalt zu sehen bedeutete, das Geheimnis zu kennen. Traf das auch auf Macht zu? Vielleicht. Denn wechselte Macht nicht ebenfalls - so wie Es - ständig die Gestalt? Macht - das konnte ein Baby sein, das mitten in der Nacht schrie;

das konnte eine Atombombe oder auch eine silberne Schleuderkugel sein; das war aber ebenso auch die Art und Weise, wie Beverly Bill anschaute -und er sie.

Was war demnach Macht?

12

In den nachfolgenden zwei Wochen ereignete sich nichts von Bedeutung.

Derry: Viertes Zwischenspiel

»You got to lose

You can't win all time.

You got to lose You can't win all time, what'd I say? I know, pretty baby,

I see trouble coming down the line.«

John Lee Hooker »You Got to Lose«

6. April 1985

Es kommt mir fast so vor, als hätte ich tatsächlich begonnen, die Geschichte der Stadt Derry zu schreiben - wovor Albert Carson mich gewarnt hat -, obwohl ich doch nur Fakten zusammentrage, Nachforschungen anstelle und mündliche Erzählungen von Zeugen der Zeit zu Papier bringe.

Wenn ich je beschließen sollte, all diese Geschichten chronologisch zu ordnen und stilistisch zu überarbeiten, mit anderen Worten, sie zu veröffentlichen, so würde ich natürlich - und das ist mir völlig bewußt - gebeten werden, meinen Schreibtisch hier in der Bücherei zu räumen und meine Schlüssel abzugeben, und zwar vermutlich schon eine halbe Stunde, nachdem die ersten Exemplare in den Buchhandlungen der Innenstadt ausliegen würden. Denn weder für mich noch für jemand anderen in Derry ist es ein Geheimnis, daß die Bücherei den Nachkommen der Holzbarone gehört, die sie mit den durch Raubbau am Wald erworbenen Geldern finanziert hatten. Von den elf Mitgliedern des Büchereiausschusses, zu denen auch ich gehöre, sind acht Nachkommen jener ausbeuterischen Holzbarone. Sie repräsentieren Derrys alte Geldaristokratie, die Bücherei ist ihre milde Gabe, und sie haben ein wachsames Auge darauf, auch wenn es nach außen hin so scheint, als hielten sie sich im Hintergrund.

Ihre Großväter und Urgroßväter haben hier sehr gewinnbringende Geschäfte abgewickelt. Sie haben das Land um Derry herum abgeholzt - sie haben damit Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, als Grover Cleveland Präsident war, und sie waren so ziemlich damit fertig, als Woodrow Wilson seinen Schlaganfall erlitt. Sie verwandelten das verschlafene kleine

Schiffsbaustädtchen Derry in eine einzige große, gut florierende Spelunke, wo die Saloons durchgehend geöffnet hatten, und wo die Dirnen die ganze Nacht hindurch im Einsatz waren.

Dieser Boom in Derry hielt bis in die 2oer Jahre unseres Jahrhunderts an; von der Eisschmelze im April bis zum Einsetzen der Fröste im November war das Wasser des Penobscots und des Kenduskeags wegen der Menge der Baumstämme kaum zu sehen, die flußabwärts trieben. Das Geschäft begann in den 2oer Jahren abzuflauen - nach der Hochkonjunktur des Ersten Weltkriegs - und kam während der großen Depression völlig zum Erliegen. Die Holzbarone brachten ihr Geld seelenruhig auf jene der New Yorker und Bostoner Banken, die den großen Bankenkrach von 1929 überlebt hatten, und von nun an kümmerten sie sich nicht mehr um Derrys Handel und Wirtschaft. Sie zogen sich in ihre prachtvollen Häuser am West Broadway und in der Clearview Street zurück, schickten ihre Kinder auf Privatschulen in New Hampshire, Massachusetts und New York und warteten einfach auf eine Wiederbelebung des Holzgeschäfts, die sich schließlich auch einstellte.

Was heute von ihrem Regiment übriggeblieben ist, sind statt richtiger Wälder nutzlose Baumtrümmer und Unterholz, sind die großen viktorianischen Häuser... und meine Bücherei. Nur würden diese braven Leute vom West Broadway mir >meine Bücherei< in Null Komma nichts wegnehmen, wenn ich irgendwas über die Legion of White Decency, über das Feuer im >Black Spot<, über die Exekution der Brady-Bande... oder über die Sache mit Claude Heroux und den >Silver Dollar< veröffentlichen würde. Der >Sil-ver Dollar< war eine Bierkneipe, und dort fand im September 1902 ein Ereignis statt, das gut und gern der sonderbarste Massenmord in der Geschichte Amerikas gewesen sein könnte. Es gibt noch ein paar alte Einheimische, die sich daran zu erinnern behaupten, aber den einzigen wirklich vertrauenswürdigen Bericht darüber erhielt ich von Egbert Thoroughgood, der damals sechzehn war.

Obwohl ich die Kassettenaufnahmen mit seiner Erzählung transkribiert habe, werde ich sie hier nicht in dieser Form wiedergeben. Der inzwischen fast hundertjährige Thoroughgood, der jetzt in einem Pflegeheim lebt, ist zahnlos und spricht zudem so starken Dialekt, daß vermutlich nur alte Mai-ner alles verstehen würden.

Claude Heroux - ein Frankokanadier - war, wie Thoroughgood sich ausdrückte, »ein ganz verdammter Hurensohn«. Thoroughgood sagte, er selbst-und alle anderen, die mit Heroux zusammengearbeitet hatten- hätten den Mann für sehr schlau, falsch und gerissen gehalten... was seine Beilschlächterei im >Silver Dollar< nur noch unbegreiflicher erscheinen läßt. Sie paßte eigentlich überhaupt nicht zu seinem Charakter. Bis dahin hatten die Holzfäller in Derry geglaubt, seine Spezialität wären vornehmlich Brandstiftungen in den umliegenden Wäldern.

Der Sommer 1902 war lang und heiß, und es hatte sehr viele Waldbrände gegeben. Der größte, den Heroux - wie er später zugab - gelegt hatte, indem er einfach eine brennende Kerze zwischen einen Haufen Holzspäne und Brennholz stellte, ereignete sich bei Lydeville. 20000 Acker erstklassiges Hartholz brannten ab, und man konnte den Rauch noch 35 Meilen entfernt in den Pferdebahnen riechen, die den Up-Mile Hill in Derry hinauffuhren.