»Jaaa«, sagte er. »Vielleicht tu' ich das.«
Während die Männer an der Bar sich über das Wetter unterhielten, fuhr Heroux mit seinem blutigen Handwerk fort. Stugley Grenier war es endlich gelungen, seine Pistole herauszuholen. Er zielte auf Claudes Gesicht und drückte ab. Aber gerade in diesem Moment sauste die Axt wieder auf Eddie King hernieder, der schon regelrecht in Stücke geschlagen war. Die Kugel prallte von der Axt ab.
El Katook kam irgendwie auf die Beine und versuchte sich davonzuschleichen. Er hielt immer noch die Karten in der Hand, die er nicht mehr hatte austeilen können; einzelne Karten flatterten zu Boden. Er sah aus wie ein Zauberkünstler, der ein einfaches Kunststück verpatzt hat. Claude verfolgte ihn. El Katook hob beschwörend die Hände. Stugley Grenier schoß wieder, verfehlte Heroux aber um gute zehn Fuß.
»Nicht doch, Claude!« rief El Katook, und es hörte sich an, als versuche er zu lächeln. »Ich war nicht dabei. Ich hatte mit der Sache nichts zu tun.«
Heroux knurrte nur.
»Ich war in Millinockett«, kreischte El Katook. »Ich war in Millinockett, ich schwor's beim Namen meiner Mutter! Frag jemanden, wenn du mir nicht gl. ..«
Claude hob die bluttriefende Axt, und El Katook warf ihm die restlichen Karten ins Gesicht. Die Axt pfiff durch die Luft. El Katook wich aus, und sie bohrte sich in die Holzwand der Kneipe. El Katook versuchte wegzurennen. Claude zog die Axt aus der Wand und schlug El Katook damit gegen die Fußknöchel. Inzwischen schoß Stugley wieder, und diesmal hatte er mehr Glück. Er hatte auf den Kopf des wahnsinnig gewordenen Holzfällers gezielt; aber es reichte nur zu einer Fleischwunde in Heroux' Oberschenkel.
El Katook kroch auf die Tür zu. Seine Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Claude schwang brüllend wieder seine Axt, und einen Augenblick später rollte El Katooks Kopf über den mit Sägespänen bestreuten Boden. Seine Zunge hing zwischen den Zähnen heraus. Der Kopf landete neben dem Stiefel eines Holzfällers namens Varney, der fast den ganzen Tag in der Kneipe verbracht hatte und inzwischen so betrunken war, daß er nicht mehr wußte, ob er an Land oder auf hoher See war. Er stieß den Kopf mit dem Fuß beiseite, ohne überhaupt hinzusehen, was es war, und dann brüllte er nach einem neuen Bier.
Katook kroch noch drei Fuß weiter, während ihm das Blut wie eine Fontäne aus der Halsschlagader schoß, bevor er zusammenbrach. Nun war nur noch Stugley übrig. Heroux wollte sich auf ihn stürzen, aber Stugley konnte noch aufs Klo rennen und die Tür verriegeln.
Heroux brach brüllend und tobend und geifernd die Tür auf, aber als er ins Klo stürzte, war Stugley verschwunden, obwohl der kalte, zugige kleine Raum kein Fenster hatte. Einen Moment lang stand er mit gesenktem Kopf da, die muskulösen Arme mit Blut beschmiert, und dann riß er den Klodek-kel auf. Er sah gerade noch, wie Stugleys Stiefel unter der vermoderten Bretterkante der äußeren Scheißhauswand verschwanden. Stugley Grenier rannte im Regen schreiend die Exchange Street hinunter, von Kopf bis Fuß braun und stinkend; er brüllte, er würde ermordet. Er überlebte als einziger die Metzelei im >Silver Dollar<, aber nachdem er sich drei Monate lang die Witze über seine Fluchtmethode angehört hatte, verschwand er für immer aus Derry und Umgebung.
Heroux kam aus dem Klo heraus und blieb mit gesenktem Kopf davor stehen; seine Axt hielt er immer noch mit beiden Händen fest. Er keuchte und war über und über mit Blut bespritzt.
»Mach die Tür zu, Claude, das stinkt ja bestialisch!« rief Thoroughgood. Claude ließ seine Axt fallen und tat, wie ihm geheißen. Er ging auf den Tisch zu, wo seine Opfer gesessen hatten, und kickte dabei eins von Ed Kings abgeschlagenen Beinen aus dem Weg. Dann saß er einfach da, den Kopf auf die Arme gelegt. Das Trinken und die Unterhaltungen in der Bar gingen weiter. Fünf Minuten später kamen Männer in die Kneipe gerannt, darunter auch drei oder vier Hilfssheriffs (einer von ihnen war Lal Dakins Vater, und als er das Blutbad sah, bekam er einen Herzanfall und mußte in Dr. Shratts Praxis gebracht werden). Claude Heroux wurde abgeführt.
In jener Nacht war das Gemetzel in allen Kneipen auf der Exchange Street und der Baker Street natürlich das einzige Gesprächsthema. Die Männer betranken sich und steigerten sich immer mehr in Wut hinein, und als die Kneipen schlössen, stürmten mehr als 70 Mann in Richtung Innenstadt und Gerichtsgebäude. Sie hatten Fackeln und Laternen bei sich, Gewehre, Äxte und Heugabeln.
Der Kreissheriff wurde erst am nächsten Tag aus Bangor erwartet, und Goose Dakin, sein erster Stellvertreter, lag mit seinem Herzanfall in Dr. Shratts Praxis. Die beiden Hilfssheriffs, die in Dakins Büro saßen und Cribbage spielten, hörten den Mob kommen und machten sich rasch aus dem Staub. Der Mob stürzte herein und zerrte Claude Heroux aus seiner Zelle. Er protestierte kaum; er wirkte wie betäubt.
Sie trugen ihn auf den Schultern wie einen Footballstar; zur Canal Street trugen sie ihn, und dort knüpften sie ihn an einer großen alten Ulme am Kanal auf. »Er war so weggetreten, daß er nur zweimal mit dem Fuß zuckte«, sagte Egbert Thoroughgood. Eigentlich überflüssig, es zu erwähnen - natürlich stand nichts darüber in den >Derry News<. Viele von denen, die unbeteiligt weitergetrunken hatten, während Heroux im >Silver Dollar< herumwütete, gehörten zu dem Mob, der ihm eine Schlinge um den Hals legte und ihn aufknüpfte. Mochten sie am frühen Abend noch so unbeteiligt gewesen sein - bis Mitternacht hatte ihre Stimmung total umgeschlagen.
Ich stellte Thoroughgood meine letzte Frage: Hatte er während der Gewalttätigkeiten jenes Tages jemanden gesehen, den er nicht kannte? Jemanden, der ihm sonderbar, fehl am Platze, komisch oder sogar clownartig vorgekommen war? Jemanden, der vielleicht im >Silver Dollar< an der Bar stand und der dann, zu vorgerückter Stunde, als alle schon betrunken waren und anfingen, vom Lynchen zu reden, sie noch mehr aufhetzte?
»Vielleicht habe ich so was gesehen«, antwortete Thoroughgood. Er war inzwischen schon sehr müde und reif für sein Nachmittagsschläfchen. »Es ist lange her, Mister. Lange, sehr lange ist es her.«
»Aber Sie erinnern sich doch an etwas?« fragte ich.
»Ich erinnere mich, gedacht zu haben, daß irgendwo auf dem Weg nach
Bangor ein Jahrmarkt sein muß«, sagte Thoroughgood. »Ich habe an jenem Abend im >Bloody Bucket< weitergetrunken, einer Bierkneipe, die so etwa sechs Türen vom >Silver Dollar< entfernt war. Da drin war so'n Kerl... 'n komischer Bursche war das... machte Luftsprünge und schlug Purzelbäume ... führte Kunststückchen vor... jonglierte mit Gläsern... legte sich Münzen auf die Stirn, und sie blieben dort haften... komischer Kerl, wissen Sie...«
Sein knochiges Kinn sank wieder auf die Brust. Er war am Einschlafen. Speichel begann ihm aus den Winkeln seines zahnlosen, faltigen Mundes zu fließen.
»Habe ihn seitdem ein paarmal wiedergesehen«, murmelte er. »Vielleicht hat er sich an jenem Abend so gut amüsiert, daß er beschlossen hat, sich in der Nähe niederzulassen.«
»Er ist schon sehr lange hier«, sagte ich.
Als einzige Antwort hörte ich leises Schnarchen. Thoroughgood war in seinem Stuhl am Fenster eingeschlafen. Seine ganzen Arzneien standen neben ihm auf dem Sims, in Reih und Glied wie paradierende Soldaten - Tabletten und Tropfen und ein billiges Wasserglas, in dem ein Löffel stand.
Ich stellte meinen Kassettenrecorder ab, blieb eine Weile einfach sitzen und betrachtete diesen seltsamen Zeit-Reisenden, der noch eine Ära ohne Autos, ohne elektrisches Licht, ohne Flugzeuge, ohne den Staat Arizona erlebt hatte. Ich konnte immer noch aus der Ferne das fröhliche Geschrei der Kinder hören, und meine Haut war so kalt wie der Schnee, auf dem sie Schlitten fuhren. Thoroughgood hatte mir mehr bestätigen können, als ich erwartet hatte. Pennywise war dort gewesen, hatte mit Biergläsern jongliert, Münzen auf seiner Stirn balanciert, vermutlich die Stimmung des Mobs angeheizt und nach seinen Willen gelenkt. Pennywise hatte sie auf den Pfad eines weiteren Menschenopfers geführt - eines kleines Gliedes in der langen, langen Kette von Opfern in der Geschichte Derrys. Jenes Ereignis vom September 1908 leitete eine Periode noch größeren Schreckens ein, der schließlich in der Explosion der Eisenhütte zu Ostern des folgenden Jahres seinen Höhepunkt fand.