Das alles wirft Fragen auf, die lebenswichtig sein dürften - was ißt Es beispielsweise wirklich? Ich weiß, daß einige Kinder teilweise aufgefressen waren oder zumindest Bißwunden zeigten, aber vielleicht sind wir es, die Es anstiften. Uns allen wurde seit frühester Kindheit beigebracht, daß das Monster einen auffrißt, wenn Es einen im finstern Wald fängt. Vielleicht ist das einfach das Schlimmste, was wir uns vorstellen können. Aber zumindest in den Geschichten ist es eigentlich der Glaube, von dem die Monster leben. Der Glaube von Kindern. Diese Schlußfolgerung drängt sich mir unweigerlich auf: Essen mag lebensnotwendig sein, aber die eigentliche Quelle der Macht ist nicht das Essen, sondern der Glaube. Und wer ist zu einem totalen Glaubensakt befähigter als ein Kind?
Und genau da liegt natürlich das Problem. Kinder werden größer, werden erwachsen. In der Kirche wird Macht durch regelmäßig wiederholte Kulthandlungen verewigt. In Derry scheint die Macht ebenfalls durch regelmäßig wiederholte Kulthandlungen verewigt zu werden. Kann es vielleicht sein, daß dieses Es, das manchmal in das Kostüm von Pennywise schlüpft, SICH verewigt, indem Es in den Kindern einen Glauben an finstere Mächte weckt, und daß Es durch eine ganz einfache Tatsache geschützt ist: wenn die Kinder erwachsen werden und rationales Denken lernen, das ihm eventuell gefährlich werden könnte, dann vergessen sie?
Ja, ich glaube, hierin besteht das eigentliche Geheimnis. Und wenn ich meine alten Freunde anrufe - woran werden sie sich noch erinnern können? Werden sie sich an genug erinnern können, um diesem Schrecken ein für allemal ein Ende zu setzen? Oder werden ihre Erinnerungen lückenhaft bleiben, und alles wird nur zu ihrer Ermordung führen? Diese Fragen lasten so schwer auf mir, daß sie fast schon zu fixen Ideen werden. Meine Freunde werden herbeigerufen - soviel steht für mich fest. Jeder dieser neuen Morde war ein Ruf. Wir haben Es zweimal fast getötet, einmal im Haus auf der Nei-bolt Street und dann vierzehn Tage später, am 10. August. Wir haben ihm Angst eingejagt - Es hat sich tief in seine Wohnstätten aus Tunnels und stinkenden Räumen unterhalb der Stadt verkrochen. Aber ich glaube, Es kannte das Geheimnis: Es selbst mag unsterblich - oder fast unsterblich -sein, aber wir sind es nicht. Es brauchte nur abzuwarten, bis der totale Glaubensakt, der uns als Kinder ebenso zu potentiellen Monster-Killern wie zu potentiellen Opfern machte, für uns unmöglich würde. 27 Jahre. Vielleicht ein Zeitabschnitt des Schlafes für Es, so kurz und erfrischend wie für uns ein Nachmittagsschläfchen. Und wenn Es aufwacht, ist Es unverändert, für uns aber ist ein Drittel unseres Lebens vergangen. Unsere Perspektiven haben sich verengt; unser Glaube an die Magie, der Magie erst ermöglicht, ist verblaßt wie der Glanz von neuen Schuhen nach einer anstrengenden Tageswanderung.
Aber weshalb ruft Es uns zurück? Warum läßt es uns nicht einfach eines natürlichen Todes sterben (unsere Lebensspannen müssen ihm doch so kurz vorkommen wie uns jene Eintagsfliegen)? Weil wir Es verletzt haben, weil wir Es fast getötet haben, weil wir seinen letzten Zyklus von Mord und Schrecken vorzeitig beendet haben, bevor Es bereit war, wieder einzuschlafen. Weil Es sich an uns rächen will.
Und jetzt, da wir nicht mehr an den Weihnachtsmann, ans Sandmännchen und an Hansel und Gretel glauben, jetzt wartet Es auf uns. Komml zurück, sagt Es. Kommt zurück, und wir werden die Sache in Derry zu Ende führen. Bringt eure Schachtelmännchen und eure Murmeln und eure Yo-Yos mit... und wir werden spielen. Kommt zurück dann werden wir sehen, ob ihr euch an das Allereinfachste erinnert: wie es ist, ein Kind zu sein... und sich vor dem Dunkeln zu fürchten.
Zumindest diese letzte Forderung erfülle ich tausendprozentig: ich fürchte mich. Ich habe irrsinnige Angst.
Fünfter Teil
DAS RITUAL VON CHÜD
»It is not to be done. The seepage has rotted out the curtain. The mesh is decayed. Loosen the flesh from the machine, build no more bridges. Through what air will you fly to span the continents? Let the words fall any way at all - that they may hit love aslant. It will be a rare Visitation. They want to rescue too much, the flood has done its work«
William Carlos Williams Paterson
»Look and remember. Look upon this land, Far, far across the factories and the grass. Surely, there, surely, they will let you pass. Speak then and ask the forest and the loam. What do you hear? What does the land command? The earth is taken: this is notyour hörne.«
Karl Shapiro >Travelogue for Exiles<
Neunzehntes Kapitel
Entscheidende Stunden
1. Die Stadtbücherei von Derry, 1.15 Uhr
Nachdem Ben Hanscom seine Erzählung beendet hatte, wollten sie ihre Unterhaltung fortsetzen, aber Mike erklärte ihnen ruhig, es wäre vernünftiger, wenn sie jetzt schlafen gingen. Er selbst wirkte völlig erschöpft und physisch krank.
»Aber wir sind doch noch gar nicht fertig«, wandte Eddie ein. »Was ist mit dem Rest der Geschichte? Ich erinnere mich immer noch nicht...«
»Mike hat recht«, sagte Bill. »Alles andere w-w-wird uns auch noch einf-f-iallen, dessen bin ich m-mir jetzt ziemlich sicher. Wir haben uns heute abend an alles erinnert, was notwendig war.«
»Vielleicht an alles, was wir auf einmal verkraften können?« meinte Richie.
Mike nickte. »Wir sehen uns dann morgen.«
»Hier?« fragte Beverly.
Mike schüttelte langsam den Kopf. »Ich würde vorschlagen, daß wir uns auf der Kansas Street treffen, an der Stelle, wo Bill immer sein Fahrrad versteckte.«
»Und dann gehen wir in die Barrens...«, sagte Eddie und schauderte plötzlich.
Mike nickte wieder.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Alle sahen einander an. Dann stand Bill auf, und die anderen folgten seinem Beispiel.
»Ich möchte, daß ihr alle heute nacht sehr vorsichtig seid«, sagte Mike. »Es war hier; Es kann überall auftauchen, wohin ihr auch geht. Aber nach dem heutigen Abend habe ich doch schon ein besseres Gefühl.« Er sah Bill an. »Ich würde sagen, daß wir es immer noch schaffen könnten. Was meinst du, Bill?«
Bill nickte langsam. »Ja, ich g-glaube, wir könnten es sch-sch-schaffen.«
»Es wird sich dessen ebenfalls bewußt sein«, fuhr Mike fort. »Und Es wird alles in seiner Macht Stehende versuchen, um seine Gewinnchancen zu erhöhen.«
»Und was sollen wir tun, wenn Es auftaucht?« fragte Richie. »Uns die Nasen zuhalten, die Augen schließen, uns dreimal im Kreis drehen und an Gutes denken? ihm irgendeinen magischen Staub ins Gesicht blasen? Alte Elvis Presley-Lieder singen? Oder was sonst?«
Mike schüttelte den Kopf. »Wenn ich das sagen könnte, gäbe es überhaupt keine Probleme, stimmt's? Ich weiß nur, daß es auch noch jene andere Kraft gibt - zumindest gab es sie, als wir Kinder waren -, die wollte, daß wir am Leben bleiben und dieses Werk vollbringen. Vielleicht existiert diese Kraft immer noch.« Er zuckte müde die Achseln. »Ich dachte, daß zwei - vielleicht sogar drei - von euch zu unserem Treffen heute abend nicht mehr kommen würden - daß sie abgereist, spurlos verschwunden oder tot sein würden. Allein schon die Tatsache, daß ihr euch alle hier eingefunden habt, ließ mich neue Hoffnung schöpfen.«