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Richie warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Viertel nach eins. Wie doch die Zeit vergeht, wenn man sich gut amüsiert, was, Haystack?«

»Piep-piep, Richie«, sagte Ben mit schwachem Lächeln.

»Gehen wir zusammen ins Town House zurück, Bev?« fragte Bill.

»Okay.« Sie zog ihren Mantel an. Die Bücherei wirkte jetzt sehr still und dunkel - direkt furchterregend. Auf einmal spürte Bill ganz gewaltig die physischen Anstrengungen und die psychischen Belastungen der letzten beiden Tage. Es war nicht nur Müdigkeit - die hätte ihn nicht beunruhigt; es war viel mehr: das Gefühl, daß er einem Nervenzusammenbruch ziemlich nahe war, weil ihn schon Wahnvorstellungen befielen, wie jene, beobachtet zu werden.

»Und was ist mit dir, Richie?«

Richie schüttelte den Kopf. »Ich werde Haystack und Eddie dadurch auszeichnen, daß sie mich nach Hause geleiten dürfen«, sagte er. »Einverstanden, Haystack?«

»Na klar«, sagte Ben. Er warf einen flüchtigen Blick zu Beverly hinüber, die dicht neben Bill stand, und ein fast vergessener Schmerz durchzuckte ihn. Eine neue Erinnerung stieg aus der Tiefe seines Unterbewußtseins empor, verschwamm jedoch wieder, bevor sie feste Konturen annehmen konnte.

»Und du, M-Mike?« fragte Bill. »Kommst du mit uns?«

Mike schüttelte den Kopf. »Ich muß noch...«

In diesem Moment stieß Beverly einen schrillen Schrei aus, der jäh die Stille der Bücherei zerriß, von der Kuppel zurückgeworfen wurde und gespenstisch im Gebäude widerhallte; und dieses Echo hörte sich an wie das Gelächter umherschwirrender Feen, die Todesnachrichten verkünden.

Bill wirbelte herum; Richie ließ sein Sportsakko fallen, das er gerade von der Stuhllehne genommen hatte; Eddie stieß eine leere Ginflasche vom Tisch, die mit lautem Klirren auf dem Boden zerschellte.

Beverly taumelte mit weit ausgestreckten Armen und schneeweißem Gesicht rückwärts. Ihre Augen traten fast aus den rot verfärbten Höhlen. »Meine Hände!« schrie sie. »Meine Hände!«

»Was...«, begann Bill, und dann sah er das Blut zwischen ihren zitternden Fingern. Er machte einen Schritt auf sie zu, und plötzlich fühlten seine eigenen Hände sich eigenartig warm an, und er verspürte einen leichten Schmerz, so als ob eine längst verheilte alte Wunde wieder weh tut.

Er hob die Hände und betrachtete sie. Die alten, in England nach Mikes Anruf wieder sichtbar gewordenen Narben waren aufgebrochen. Sie bluteten. Er warf einen Blick in die Runde und sah, daß Eddie Kaspbrak fassungslos auf seine Hände starrte. Auch sie bluteten. Und ebenso Mikes, Richies und Bens Hände.

»Uns bleibt jetzt überhaupt keine Wahl mehr, so ist es doch?« fragte Beverly weinend. Auch ihr Schluchzen hallte in der stillen leeren Bücherei wider - das Gebäude selbst schien zu weinen. Bill hatte den Eindruck, als würde er wahnsinnig werden, wenn er diese Laute noch lange hören mußte. »Gott steh uns bei - wir haben jetzt keine Wahl mehr.« Sie schniefte, und aus einem Nasenloch floß etwas Schleim heraus. Sie wischte ihn mit zittriger Hand ab, und dabei fielen einige Blutstropfen auf den Boden.

»Sch-Sch-Schnell!« rief Bill und griff nach Eddies Hand.

»Was...«

»Schnell!«

Er streckte seine andere Hand aus, und Beverly ergriff sie, immer noch weinend.

»Ja«, sagte Mike. Er war wie betäubt. »Ja, du hast recht. Es beginnt sich zu wiederholen, stimmt's, Bill?«

»Ja, ich g-g-glaube...«

Mike griff nach Eddies freier Hand, Richie nach Beverly s. Einen Moment lang stand Ben nur da und starrte sie an, dann trat er zwischen Mike und Richie. Er reichte ihnen die Hände, und der Kreis war geschlossen.

Bill wollte schreien, brachte aber keinen Laut hervor. Er sah, wie Eddie den Kopf in den Nacken warf, wie seine Halsmuskeln weit hervortraten. Bevs Hüften zuckten zweimal heftig, so als hätte sie einen Orgasmus. Mikes Mund bewegte sich in einer unheimlichen Mischung aus Lachen und Grimasse. Die Türen in der stillen Bücherei flogen plötzlich dröhnend auf. Im Lesezimmer flatterten die Zeitschriften in einem windlosen Wirbelsturm. In Carol Danners Büro begann die IBM-Schreibmaschine plötzlich wie verrückt draufloszutippen:

imßnsternföhrenwalddawohnteinwahrermeisterderfichtganz-

furchtloskaltsogarnochgegengeisterimfnsternföhrenwalddawohntein

Ein lautes Zischen ertönte, und die elektrische Maschine blieb abrupt stehen, weil sie hoffnungslos überladen war. Das Regal mit Büchern über Okkultismus kippte vornüber, und Edgar Cayce, Nostradamus, Charles Fort und die Apokryphen wurden in der ganzen Gegend verstreut.

Bill verspürte ein überwältigendes Machtgefühl. Er nahm unterbewußt wahr, daß er eine Erektion hatte und daß ihm alle Haare zu Berge standen. Die Kraft in dem vollendeten Kreis war einfach phänomenal.

Alle Türen in der Bücherei knallten gleichzeitig wieder zu. Die Großvateruhr hinter der Ausleihtheke schlug einmal und blieb dann stehen.

Sie ließen ihre Hände sinken und blickten einander ganz bestäubt an. Niemand sprach ein Wort. Das Gefühl von Kraft und Macht verebbte, und an seine Stelle trat bei Bill eine furchtbare Vorahnung. Er betrachtete die verzerrten weißen Gesichter der anderen, dann warf er einen Blick auf seine Hände. Sie waren mit Blut beschmiert, aber die Schnittwunden, die Stan Uris im August 1958 mit der Scherbe einer Colaflasche eingeritzt hatte, hatten sich wieder geschlossen, und nur noch die weißen Narben waren sichtbar. Er dachte: Das war damals das letzte Mal, daß wir sieben zusammen waren... als Stan uns in den Barrens die Handflächen ritzte. Stan ist nicht hier; Stan ist tot. Und dies ist nun das letzte Mal, daß wir sechs zusammen sind. Ich weiß es, ich fühle es. Jemand von uns wird heute nacht sterben. Mindestens einer; vielleicht auch mehrere.

Beverly lehnte sich zitternd an ihn, und er legte einen Arm um sie. Alle sahen ihn mit riesengroßen Augen an. Nur der lange Tisch, an dem sie gesessen hatten, und der mit leeren Flaschen, Gläsern und überquellenden Aschenbechern vollgestellt war, bildete eine kleine helle - tröstliche - Insel.

»Das r-reicht«, sagte Bill heiser. »Für einen einzigen Abend reicht's jetzt wirklich.«

»Ich habe mich erinnert«, sagte Beverly und schaute mit tränenbenetzten Wangen zu Bill auf. »Ich habe mich an alles erinnert... Mein Vater, der herausgefunden hatte, daß ich mit euch zusammen war... Wie ich vor ihm davongerannt bin... Bowers und Criss und Huggins... Und wie ich wieder gerannt bin... Und der Tunnel... die Vögel... Es... Ich habe mich an alles erinnert...«

»Ja«, sagte Richie, »ich auch.«

Eddie nickte. »Die Pumpstation...«

Bill fiel ein: »Und wie Eddie...«

»Geht jetzt nach Hause«, unterbrach sie Mike. »Ruht euch ein bißchen aus. Es ist schon spät.«

»Komm mit uns, Mike«, bat Beverly.

»Nein. Ich muß noch alles abschließen. Und außerdem muß ich noch ein paar Aufzeichnungen machen... über unser heutiges Treffen. Es wird aber nicht lange dauern. Geht ruhig schon vor.«

Immer noch halb betäubt, gingen sie zur Tür - Bill und Beverly nebeneinander, Eddie, Richie und Ben hinter ihnen. Alle waren sehr schweigsam. Bill hielt Beverly die Tür auf, und sie murmelte »Danke«. Als sie die breiten Granitstufen hinabging, dachte Bill, wie jung sie aussah, wie verletzlich ... und er wurde sich schockiert bewußt, daß er auf dem besten Wege war, sich neu in sie zu verlieben. Er versuchte an Audra zu denken, aber sie schien plötzlich sehr fern zu sein. Sie würde jetzt - in England war wohl gerade die Sonne aufgegangen, und der Milchmann fuhr seine Waren aus - in ihrem Haus in Fleet ruhig schlafen. Vermutlich allein, aber das war durchaus nicht sicher - und in Anbetracht der Tatsache seines eiligen, für sie unverständlichen Aufbruchs könnte er es ihr nicht einmal verübeln, wenn sie sich einen Partner gesucht hätte, um der plötzlichen Leere zu entfliehen.