Der Himmel hatte sich wieder bewölkt, und ein dichter Bodennebel lag in Schwaden über der dunklen, menschenleeren Straße. Ihre Schritte hallten laut durch die Stille. Beverly tastete nach Bills Hand, und er griff dankbar danach und verschränkte seine Finger mit den ihrigen.
»Es hat angefangen, bevor wir dazu bereit waren, stimmt's?« fragte sie.
»W-Wären wir je b-b-bereit gewesen?«
»Du schon, Big Bill.«
Es war wunderbar tröstlich, ihre Hand zu halten. Er ertappte sich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, zum zweitenmal in seinem Leben ihre Brüste zu berühren, und er vermutete, daß er es wissen würde, bevor diese lange, lange Nacht vorüber war. Sie würden jetzt üppiger sein, reif... und an gewissen anderen Stellen ihres Körpers würden seine liebkosenden Finger Haare ertasten. Ich habe dich geliebt, Beverly... ich liebe dich, dachte er. Ben hat dich geliebt... er liebt dich. Wir haben dich damals geliebt... und wir lieben dich auch heute. Alles wiederholt sich. Jetzt gibt es für uns keinen Ausweg mehr.
»Ich w-w-weiß nicht so r-recht«, ging er auf ihre letzte Bemerkung ein. »Im A-A-August hatte ich schon f-fast vergessen, wie G-G-G...«
»George?«
»Ja. Wie er ausgesehen h-h-hatte. Aber die Entscheidung wurde uns abgenommen.«
Er warf einen Blick zurück zur Bücherei, von der sie sich etwa einen Block weit entfernt hatten. Richie und Eddie standen immer noch auf der obersten Treppenstufe. Ben stand unten und schaute ihnen nach. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben, seine Schultern waren gebeugt, und diese Haltung hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit dem zehnjährigen Jungen von einst. Wenn Gedanken übertragbar gewesen wären, hätte Bill ihm mitteilen mögen: Es spielt keine Rolle, Ben. Wir liebten Eev beide; und auch die anderen liebten sie. Was zählt, ist die Liebe, die Zärtlichkeit... nicht die Zeit. Und deine Zeit kommt noch.
»Mein Vater wußte Bescheid«, sagte sie plötzlich. »Eines Tages kam ich aus den Barrens nach Hause, und er wußte einfach Bescheid. Weißt du, was er zu sagen pflegte?«
»Was?«
»Ich mache mir Sorgen um dich, Bevvie. Ich mache mir große Sorgen. Ich mache mir schreckliche Sorgen.« Sie lachte, und dann schauderte sie zusammen. »Ich glaube, er wollte mich verletzen, Bill. Er hatte das zwar früher auch schon getan, aber irgendwie war es an jenem Tag anders. Er war... na ja, in vieler Hinsicht war er ein seltsamer Mensch. Ich liebte ihn, ich liebte ihn sehr, aber...«
Sie sah ihn an und hoffte, daß er es an ihrer Stelle aussprechen würde. Aber das tat er nicht; dies war etwas, das sie selbst über die Lippen bringen mußte, früher oder später. Lügen und Selbsttäuschungen waren ein Ballast, den sie sich jetzt nicht mehr leisten konnten.
»Aber ich haßte ihn auch«, sagte sie und grub ihre Nägel in seine Haut. »Ich habe das noch nie im Leben jemandem erzählt. Ich dachte, Gott würde mich auf der Stelle tot umfallen lassen, wenn ich es laut aussprechen würde.«
»Dann sag's jetzt noch einmal«, forderte Bill sie auf.
»Nein, ich...«
»Los! Auch wenn's weh tut - du hast es lang genug in dich hineingefressen, Bev. Sag's!«
»Ich habe meinen Vater gehaßt!« sagte sie und begann hilflos zu schluchzen. »Ich haßte ihn, ich hatte Angst vor ihm, ich haßte ihn... Ich konnte nie so brav und lieb sein, wie er mich haben wollte, und ich haßte ihn, o ja, aber ich liebte ihn auch, ich liebte ihn, und ich haßte ihn...«
Bill blieb stehen und hielt sie fest. Sie schlang wild ihre Arme um ihn wie eine Ertrinkende und weinte heftig an seiner Schulter. Die Nähe ihres Körpers erregte ihn, und er rückte ein wenig von ihr ab, weil er nicht wollte, daß sie seine Erektion spürte... aber sie schmiegte sich wieder fest an ihn.
»Wir hatten den Morgen in den Barrens verbracht«, schluchzte sie, »und Fangen gespielt oder so was Ähnliches. Irgendwas völlig Harmloses. Wir hatten an jenem Tag nicht einmal über Es gesprochen, zumindest noch nicht... normalerweise sind wir damals jeden Tag irgendwann auf Es zu sprechen gekommen, weißt du noch?«
»O ja«, sagte er, »ich erinnere mich daran.«
»Es war bewölkt... heiß. Wir hatten fast den ganzen Vormittag gespielt. So gegen halb zwölf bin ich dann nach Hause gegangen. Ich wollte duschen und ein bißchen was essen, ein Sandwich oder einen Teller Suppe. Und dann wollte ich wieder zum Spielen in die Barrens zurück. Meine Eltern arbeiteten beide. Aber er war zu Hause. Er war da, und er
2. Lower Main Street, 11.30 Uhr
schleuderte sie quer durchs Zimmer, bevor sie überhaupt wußte, wie ihr geschah. Sie stieß einen leisen Schrei aus, prallte mit einer Schulter gegen die Wand, und der Schmerz raubte ihr für Sekunden den Atem. Sie ließ sich auf das alte, durchgesessene Sofa fallen und sah sich verstört um. Die Tür zum Flur wurde laut zugeschlagen. Ihr Vater hatte hinter dieser Tür gestanden.
»Ich mache mir Sorgen um dich, Bevvie«, sagte er. »Manchmal mache ich mir große Sorgen um dich. Schreckliche Sorgen. Das weißt du genau. Ich hab's dir oft genug gesagt, nicht wahr? Und du kannst dich drauf verlassen, daß es stimmt.«
»Daddy, was...«
Er durchquerte das Wohnzimmer, kam langsam auf sie zu; sein Gesicht wirkte besorgt, traurig und irgendwie furchterregend. Sie wollte nicht wahrhaben, daß es furchterregend war, aber es war nicht zu übersehen. Seine Augen waren viel zu strahlend, und er nagte nachdenklich an den Knöcheln seiner rechten Hand. Er trug seine graue Arbeitskleidung, und sie sah, daß seine Stiefel auf dem Teppich Schmutzspuren hinterließen. Ich werde den Staubsauger rausholen müssen, dachte sie verworren. Staubsaugen. Wenn ich nachher überhaupt noch dazu imstande bin. Wenn er mich nicht...
Es war Schlamm. Schwarzer Schlamm. In ihrem Gehirn ertönte ein Warnsignal. Unten in den Barrens gab es solchen zähen schwarzen Schlamm, wie er jetzt an Daddys Schuhen klebte. An jener sumpfigen Stelle, wo das Zeug, das Richie Bambus nannte, ein etwas unheimliches weißes skelettartiges Gehölz bildete. Und wenn Wind ging, schlugen die Gewächse mit hohlem Klang gegeneinander wie Voodoo-Trommeln. War ihr Vater etwa unten in den Barrens gewesen? Hatte ihr Vater...
Klatsch! Er hatte weit ausgeholt und ihr ins Gesicht geschlagen. Ihr Kopf prallte gegen die Wand. Er schob seine Daumen in den Gürtel und betrachtete sie mit jenem furchterregenden Ausdruck teilnahmsloser Neugierde. Sie spürte, wie warmes Blut ihr aus dem linken Winkel der Unterlippe das Kinn hinabrann.
»Ich habe dich heranwachsen sehen«, sagte er, und sie dachte, er würde weiterreden, aber er verstummte wieder.
»Daddy, wovon redest du?« fragte sie schließlich mit leiser, zitternder Stimme.
»Wenn du mich anlügst, schlag' ich dich halb tot, Bevvie«, sagte er, und sie registrierte entsetzt, daß er sie dabei nicht einmal ansah, sondern das Bild an der Wand über dem Sofa betrachtete. Und absurderweise drängte sich ihr plötzlich eine Szene auf: Sie war vier Jahre alt und saß in der Bade-
wanne, mit ihrer Kinderseife und ihrem blauen Plastikboot; ihr so großer, starker, über alles geliebter Vater kniete neben ihr, in einer alten grauen Hose und einem weißen Unterhemd; in einer Hand hatte er einen Waschlappen, mit dem er ihr den Rücken einseifte, in der anderen ein Glas Orangenlimonade, und er sagte: Laß mich mal deine Ohren sehen, Bevvie, deine Mutter braucht noch Kartoffeln fürs Abendessen. Und sie hörte das kleine Mädchen von damals kichern und selig zum vergötterten Daddy aufblik-ken.