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- überrascht, manche auch erschrocken - und dann wandten sie sich teilnahmslos wieder ab. Beverly atmete jetzt schon ziemlich schwer, und sie hatte heftiges Seitenstechen.

Sie überquerte den Kanal auf dem Zementtrottoir, während rechts von ihr Autos über die schweren Holzplanken der Brücke rumpelten. Links konnte sie den steinernen Halbkreis sehen, wo der Kanal unter der Erde verschwand. Sie stürzte plötzlich quer über die Straße, ohne auf den Verkehr, auf Hupen und quietschende Bremsen zu achten. Sie kreuzte die Straße schräg nach rechts, weil die Barrens in dieser Richtung lagen. Bis dorthin war es fast noch eine Meile, und sie würde ihren Vater auf dem steilen Up-Mile Hill irgendwie abhängen müssen (oder auf einer der noch steileren Parallelstraßen), wenn sie in die Barrens gelangen wollte. Sie waren der einzige Zufluchtsort, der ihr einfiel.

»KOMM HER, DU KLEINES LUDER, ICH WARNE DICH!«

Auf dem Gehweg, an der anderen Straßenseite angelangt, warf sie mit wehenden Haaren wieder einen Blick zurück. Ihr Vater überquerte die Main Street mit hochrotem, schweißüberströmtem Gesicht, wobei er ebenso wenig auf den Verkehr achtete wie sie selbst.

Sie bog plötzlich in eine Gasse ein, die hinter jenen Gebäuden verlief, die auf den Up-Mile Hill hinausgingen: Star Beef, Armour Meatpacking Plant, Hemphill Storage & Warehousing, Eagle Beef & Kosher Meats. Die Gasse war schmal, hatte Kopfsteinpflaster und war von Mülltonnen und -containern gesäumt. Das Pflaster war glitschig von Abfällen aller Art. Es stank nach Fleisch und Schlachthaus. Es wimmelte nur so von Fliegen. Aus einigen Gebäuden hörte sie Maschinen und das gräßliche Geräusch von Knochensägen. Sie rutschte auf dem glitschigen Kopfsteinpflaster aus und streifte mit der Hüfte eine Mülltonne; in Zeitungspapier eingewickelte Eingeweide fielen heraus.

»KOMM JETZT ENDLICH HER, BEVVIE! ICH SAG'S DIR ZUM LETZTEN mal! MACH ES NICHT NOCH SCHLIMMER, ALS ES OHNEHIN SCHON IST, MÄDCHEN!«

Zwei Männer standen auf der Schwelle der Kirshner Packing Works und aßen große, dicke Sandwiches, ohne sich vom Gestank und von den Fliegen auch nur im geringsten stören zu lassen. »Na, Mädchen«, rief einer von ihnen, »sieht ganz so aus, als würdest du mit deinem Pa bald in den Holzschuppen gehen und ordentlich was abkriegen.« Der andere Mann lachte.

Ja, ihr Vater holte auf. Sie hörte seine Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster, hörte seinen keuchenden Atem; rechts konnte sie seinen schwarzen Schatten an dem hohen Bretterzaun sehen.

Dann schrie er plötzlich wütend auf - er war ausgerutscht und hingefallen. Im nächsten Moment war er aber schon wieder auf den Beinen und setzte wutschnaubend die Verfolgung fort, während die beiden Männer lachten und einander auf den Rücken klopften.

Die Gasse beschrieb eine scharfe Linkskurve... und Beverly kam schlitternd zum Stehen. Ihre Brust hob und senkte sich rasch, während sie nach Luft schnappte. In ihrem Kopf dröhnte es.

Ein Kipplaster stand auf der Gasse und versperrte sie fast vollständig; auf beiden Seiten waren nicht einmal neun Zoll Platz. Der Motor dröhnte im

Leerlauf, aber daneben konnte sie aus der Fahrerkabine leises Gemurmel hören. Auch hier wurde offensichtlich schon Mittagspause gemacht. Es mußte ja auch kurz vor zwölf sein; in wenigen Minuten würde bestimmt die Uhr am Gerichtsgebäude schlagen.

Sie hörte ihren Vater wieder hinter sich. Sie warf sich auf den Boden und kroch auf Ellbogen und Knien unter den Lastwagen. Der Gestank nach Auspuffgasen und Dieselöl vermischte sich mit den penetranten Fleischgerüchen und rief bei ihr ein leichtes Übelkeitsgefühl hervor. Sie kam unter dem Lastwagen ziemlich gut voran, weil auch hier das Pflaster gräßlich schmierig war. Einmal streifte sie mit dem Rücken das heiße Auspuffrohr und konnte nur mit Mühe einen Schmerzensschrei unterdrücken.

»Beverly? Bist du da unten?« keuchte ihr Vater abgerissen. Sie schaute zurück, und ihre Blicke kreuzten sich, als er sich bückte und unter den Laster spähte.

»Laß mich... in Ruhe!« stieß sie mühsam hervor.

»Du Luder!« rief er. Seine Schlüssel klirrten, als er sich flach auf den Boden warf und hinter ihr herzukriechen begann.

Beverly war inzwischen unter der Fahrerkabine angelangt; sie packte einen der großen Reifen, fand festen Halt im tiefen Profil und zog sich hoch. Sie schlug sich an der vorderen Stoßstange des Lasters das Steißbein an, und dann rannte sie wieder, rannte den Up-Mile Hill hinauf; ihre mit Unrat und Öl beschmierten Kleidungsstücke klebten ihr am Körper und stanken bestialisch. Sie warf einen Blick zurück und sah die Hände und die muskulösen Arme ihres Vaters unter der Fahrerkabine des Lasters hervorschießen wie die Pranken eines der Kinderfantasie entsprungenen Monsters, das unter dem Bett hervorkriecht.

Hastig schwenkte sie ab zwischen Feldmans Lagerschuppen und dem Nebengebäude der Gebrüder Tracker. Diese schmale Sackgasse war mit Abfällen und zerbrochenen Kisten vollgestellt; dazwischen wucherte Unkraut und wuchsen einige Sonnenblumen. Beverly sprang hinter einen Stapel Kisten, kauerte sich hin und spähte vorsichtig um die Ecke. Gleich darauf sah sie ihren Vater an der Sackgasse vorbei und weiter den Hügel hinauf rennen.

Sie hätte sich jetzt auf den Rückweg zur Stadtmitte machen können, aber ihr Wunsch, in die Barrens und zu den anderen zu kommen, war inzwischen übermächtig und unbezwinglich. Jedenfalls empfahl sich aber schnelles Handeln. Ihr Vater - oder der böse Geist, der von ihm Besitz ergriffen hatte - würde bald begreifen, wo sie abgeblieben war, und dann würde er hierher zurückkommen.

Beverly lief ans Ende der Sackgasse, wo sich ein Drahtzaun befand. Sie kletterte daran hoch und ließ sich auf der anderen Seite wieder herunter. Jetzt war sie auf dem Gelände des Theologischen Seminars. Sie rannte über den gepflegten hinteren Rasen, bog um die Ecke, rannte weiter seitlich am Gebäude entlang - drinnen spielte jemand auf der Orgel eine Bachprelude, und die harmonischen Klänge schwebten feierlich durch die Stille.

Zwischen dem Seminar und der Kansas Street wuchs eine hohe, dichte Buchsbaumhecke. Sie spähte hindurch und sah auf der anderen Straßenseite ihren Vater. Er atmete schwer, sein Hemd hatte unter den Achseln

große Schweißflecken, und sein Schlüsselbund funkelte in der Sonne. Die Hände in den Hüften gestemmt, drehte er suchend den Kopf in alle Richtungen.

Beverly beobachtete ihn mit laut pochendem Herzen. Sie war sehr durstig, und sie ekelte sich vor ihrem eigenen Geruch. Wenn man mich jetzt in einem Comicstrip zeichnen würde, dachte sie, so würden von mir jene Wellenlinien ausgehen, die Gestank symbolisieren.

Ihr Vater überquerte die Straße in Richtung Seminar.

Beverly hielt den Atem an.

Bitte, lieber Gott, ich kann nicht mehr rennen. Hilf mir, lieber Gott. Laß ihn mich nichtfinden!

AI Marsh ging auf dem Trottoir langsam genau an der Stelle vorbei, wo seine Tochter hinter der Hecke kauerte.

Lieber Gott, er wird mich bestimmt riechen!

Aber das passierte nicht - vielleicht weil AI, der ja auch unter dem Lastwagen durchgekrochen war, ebenso stank wie sie. Jedenfalls ging er weiter. Beverly warf sich flach auf den Rasen und kroch so weit wie möglich unter die Hecke. Aber zum Glück erwies sich das als überflüssige Vorsichtsmaßnahme. Ihr Vater betrat das Seminargelände nicht, um dort nach ihr zu suchen.

Langsam stand Beverly wieder auf. Ihr Rücken schmerzte an der Stelle, wo sie sich am Auspuffrohr verbrannt hatte. Ihre Kleidung starrte vor Dreck, und auch ihr Gesicht war schmutzig. Aber all diese Dinge waren relativ unwichtig, verglichen mit ihrer totalen emotionalen Verwirrung - sie hatte das Gefühl, über den Rand der Welt in die Tiefe gestürzt zu sein. Keins der üblichen Verhaltensmuster schien noch anwendbar zu sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, heimzugehen, aber ebensowenig konnte sie sich vorstellen, nicht heimzugehen. Sie hatte ihrem Vater getrotzt, ihm wirklich und wahrhaftig getrotzt...