Sie mußte diesen Gedanken rasch verdrängen, weil er ihr Übelkeit und weiche Knie verursachte. Sie liebte ihren Vater. Und lautete nicht eines der Zehn Gebote: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.«? Ja. Aber er war nicht er selbst gewesen, das war's. Er war jemand anders gewesen. Es...
Plötzlich schoß ihr eine schreckliche Frage durch den Kopf, und sie fröstelte: Passierte das gleiche vielleicht auch den anderen? Oder so was Ähnliches? Sie mußte ihre Freunde warnen. Sie hatten Es verletzt, und vielleicht ging Es jetzt auf diese Weise gegen sie vor, um sicherzustellen, daß sie Es nie wieder verletzen würden. Und wohin sonst als in die Barrens sollte sie auch gehen? Bill und die anderen waren die einzigen Freunde, die sie hatte. Bill... Bill würde wissen, was zu tun war. Bill würde ihr sagen, was sie jetzt tun sollte, Bill würde ihr helfen.
Sie blieb am Ende der Seminarauffahrt stehen und spähte um die Hecke auf die Kansas Street hinaus. Ihr Vater war nicht mehr zu sehen. Sie trat auf den Gehweg und ging stadtauswärts. Vermutlich würde zur Zeit keiner ihrer Freunde in den Barrens sein. Sie würden jetzt alle zu Hause zu Mittag essen. Aber später würden sie sich wieder einfinden. In der Zwischenzeit konnte sie sich ins kühle unterirdische Klubhaus setzen und versuchen,
sich ein bißchen zu beruhigen und ihre Gedanken zu ordnen. Sie würde das schmale Fenster aufmachen, damit etwas Sonnenlicht einfiel, und vielleicht würde sie sogar einschlafen können. Ihr müder Körper und ihr überan-strengtes Gehirn verlangten nach Schlaf.
Mit gesenktem Kopf trottete sie an den letzten Häusern vorbei; nun war es nicht mehr weit bis zum Steilabhang in die Barrens - die Barrens, wo ihr Vater, so unglaublich es auch zu sein schien, am Vormittag herumge-schnüffelt und sie beobachtet hatte.
Sie hörte die Schritte hinter sich nicht. Die Jungen, die sie verfolgten, waren schon zu oft abgehängt worden, um noch ein Risiko einzugehen. Sie schlichen katzenhaft leise hinter ihr her, verringerten dabei den Abstand jedoch immer mehr. Belch und Victor grinsten, aber Henrys Gesicht war ernst und ausdruckslos. Seine Haare waren ungekämmt und wirr, seine Blicke schweiften ruhelos hin und her. Er legte einen schmutzigen Finger in einer Psssf'-Geste an die Lippen, als sie nur noch 70 Fuß - nur noch 50 Fuß -nur noch 30 Fuß - von Beverly entfernt waren.
Den ganzen Sommer hindurch hatte Henry auf einer ständig schmäler werdenden Brücke über dem Abgrund des Wahnsinns balanciert. An jenem Tag, als er Patrick Hockstetter erlaubt hatte mitzuspielen, war diese Brücke nur noch ein Drahtseil gewesen. Und dieses dünne Drahtseil war nun auch noch gerissen. An diesem Morgen war er, nur mit einer abgetragenen gelblichen Unterhose bekleidet, auf den Hof hinausgegangen und hatte zum Himmel emporgeblickt. Der Mond war noch als bleicher Schatten zu sehen gewesen, und während Henry ihn betrachtet hatte, war plötzlich ein totenschädelartiges grinsendes Gesicht daraus geworden. Ganz hingerissen von freudigem Schrecken, war Henry vor diesem Gesicht auf die Knie gefallen. Geisterstimmen kamen vom Mond. Sie änderten sich, schienen sich manchmal zu einem kaum verständlichen Kauderwelsch zu vermischen... aber er erkannte die Wahrheit, daß nämlich alle diese Stimmen in Wirklichkeit eine stimme waren, daß ein geist dahinterstand. Die stimme hatte ihm gesagt, er solle sich mit Victor und Belch verabreden, und sie sollten gegen Mittag an der Ecke Kansas Street und Costello Avenue sein. Die stimme hatte ihm gesagt, er würde dann schon wissen, was zu tun sei. Und wirklich war diese kleine rothaarige Hexe aufgetaucht. Er wartete darauf, daß die stimme ihm sagen würde, was er als nächstes tun müsse. Er erhielt die Antwort, während sie den Abstand zwischen sich und Beverly stetig verringerten. Diesmal kam die stimme nicht vom Mond, sondern aus einem Gully, an dem sie vorbeikamen . Die stimme war leise, aber deutlich. Belch und Victor starrten wie hypnotisiert auf den Gully und dann auf Beverly.
Bring sie um, sagte die stimme aus dem Gully klar und deutlich.
Henry Bowers griff in die Tasche seiner Jeans und zog einen schmalen länglichen Gegenstand mit Intarsien aus imitiertem Elfenbein heraus. An einem Ende dieses dubiosen Kunstgegenstands funkelte ein kleiner Chromknopf. Henry drückte darauf, und eine sechs Zoll lange Messerklinge sprang heraus. Er hatte das Messer vor einer Woche in einem Pfandleihhaus in Bangor gekauft. Er behielt es in der Hand und begann etwas schneller zu gehen. Victor und Belch, die immer noch wie betäubt aussahen, taten es ihm nach.
Beverly hörte sie nicht; nicht deshalb drehte sie sich um, als Henry ihr dicht auf den Fersen war. Henry hatte sich so lautlos wie ein Indianer an sie herangepirscht, ein starres Grinsen auf dem Gesicht. Nein, es war einfach das deutliche und mächtige Gefühl,
3. Stadtbücherei Derry, 1.55 Uhr
beobachtet zu werden.
Mike Hanion legte seinen Füllfederhalter weg und ließ seine Blicke über den Hauptsaal der Bücherei schweifen. Er sah von den Hängelampen erzeugte Lichtinseln; er sah, unscharf im Halbdunkel, Bücherregale; er sah die eisernen Wendeltreppen zu den Magazinen. Sonst war nichts zu sehen.
Aber er wurde das Gefühl einfach nicht los. Er glaubte, daß er nicht allein hier war.
Nach dem Aufbruch der anderen hatte er automatisch aufgeräumt, während er im Geiste Millionen Meilen - und 27 Jahre - entfernt war. Er machte Aschenbecher sauber, warf die leeren Flaschen und Bierdosen weg (um Carol nicht zu schockieren, bedeckte er sie mit zerknülltem Papier), dann fegte er die Scherben der Flasche zusammen, die Eddie zerbrochen hatte.
Anschließend legte er im Leseraum die herumliegenen Zeitungen und Zeitschriften an Ort und Stelle. Und während er diese einfachen Arbeiten verrichtete, ging er noch einmal die Geschichten durch, die sie erzählt hatten, wobei er sich am meisten auf das konzentrierte, was sie ausgelassen hatten.
Sie glaubten sich jetzt an alles zu erinnern, aber das stimmte nicht ganz. Nun ja, der Rest würde ihnen auch noch einfallen... wenn Es ihnen soviel Zeit ließ. Im Jahre 1958 hatten sie keine Möglichkeit gehabt, sich vorzubereiten. Sie hatten endlos geredet - abgesehen von der Steinschlacht und ihrem heroischen Besuch des Hauses an der Neibolt Street hatten sie immer nur geredet - und vielleicht wäre es letzten Endes auch weiter nur beim Reden geblieben. Aber dann, am 10. August, waren sie von Henry und seinen Freunden geradezu in die unterirdische Kanalisation gejagt worden.
Vielleicht hätte ich es ihnen sagen sollen, dachte er, während er die letzten Zeitschriften wegräumte. Aber davon hatte ihn etwas abgehalten - jene andere Kraft. Vielleicht gehörte auch das einfach dazu; so vieles hatte sich schon wiederholt, und vielleicht würde sich auch jener letzte große Akt -natürlich in aktualisierter Form - wiederholen. Er hatte für den kommenden Tag starke Taschenlampen und Minenhelme besorgt; ebenso auch Pläne des Kanalisationssystems von Derry. Ordentlich zusammengerollt und mit Gummis zusammengehalten, lagen sie mit den Lampen und Helmen zu Hause in seinem Schrank. Aber damals, als Kinder, waren sie einfach in die Kanäle gejagt worden, waren unvorbereitet in die Konfrontation mit ihm getrieben worden. Würde sich das wiederholen? Er war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, daß Glaube und Macht austauschbar waren. War die letzte Wahrheit vielleicht noch einfacher? Daß kein Glaubensakt möglich war, bis man - wie ein Fallschirmspringer-Neuling aus einem Flugzeug - einfach sozusagen ins Nichts hinausgestoßen wurde? Sobald man fiel, war man gezwungen, an den Fallschirm zu glauben. Während des freien Falls an der Leine zu ziehen war Ausdruck dieses Glaubens.