Während Mike so seinen verschiedenen Beschäftigungen nachging, hoffte er, daß er anschließend müde genug sein würde, um nach Hause zu gehen und ein paar Stunden zu schlafen. Aber als er dann schließlich alles aufgeräumt hatte, war er immer noch hellwach. Deshalb schloß er die Tür hinter seinem Büro auf, die in den Raum mit den wertvollen Erstausgaben der Bücherei führte; angeblich sollte er feuersicher sein, wenn die tresorartige Tür geschlossen war. Hier standen signierte Werke längst verstorbener Schriftsteller (darunter Moby Dick< und Whitmans >Leaves of Grass<), Dokumente zur Stadtgeschichte und die Manuskripte der wenigen Schriftsteller, die in Derry gelebt und gearbeitet hatten. Wenn alles ein gutes Ende nahm, hoffte Mike, Bill überreden zu können, der Stadtbücherei seine Manuskripte zu überlassen. Während er die dritte Regalreihe entlangging und die vertrauten Bibliotheksgerüche genoß, dachte er: Vermutlich werde ich einmal mit einer Büchereikarte-in der Hand und einem Stempel LEIHFRIST ÜBERSCHRITTEN in der anderen sterben. Na ja, vielleicht ist das besser als mit einem Gewehr in der Hand zu sterben, Nigger.
Etwa in der Mitte des dritten Regals blieb er stehen. Sein ziemlich mitgenommener Notizblock, in dem die diversen skandalösen Geschehnisse in Derry sowie seine eigenen Abschweifungen und Ängste schriftlich niedergelegt waren, stand zwischen Frickes >Old Derry-Town< und Michauds >Hi-story of Derry<. Er hatte das Notizbuch so weit nach hinten geschoben, daß es kaum zu sehen war. Niemand, der nicht direkt danach suchte, würde es hier aufstöbern.
Er löschte die Lampen, schloß die tresorartige Tür wieder ab und setzte sich an den Tisch, an dem sie vorhin alle gesessen hatten. Er blätterte die beschriebenen Seiten durch und dachte dabei, was für ein merkwürdiges Machwerk er doch fabriziert hatte: teils Geschichte, teils Skandalchronik, teils Tagebuch, teils Beichte. Seine letzte Eintragung stammte vom 6. April. Ich werde mir bald ein neues Notizbuch zulegen müssen, dachte er. Dieses ist schon fast voll. Aus unerfindlichen Gründen fiel ihm plötzlich Margaret Mitchells erster Entwurf von >Gone With the Wind< ein - sie hatte ihn in normaler Schreibschrift in unzählige Schulhefte geschrieben. Er schraubte die Kappe von seinem Füllfederhalter, ließ seinen Blick durch die leere Bücherei schweifen und begann sodann, alles zu notieren, was sich in den vergangenen drei Tagen ereignet hatte, angefangen von dem Moment, als er in seinem Büro den Telefonhörer abgenommen und Stanley Uris' Nummer gewählt hatte.
Etwa eine Viertelstunde lang schrieb er mit äußerster Konzentration... dann ließ sie nach, und er hielt immer häufiger inne. Stans abgetrennter Kopf im Kühlschrank tauchte vor seinem geistigen Auge auf, Stans blutiger Kopf mit dem offenen Mund voller Federn, Stans Kopf, der aus dem Kühlschrank gefallen und auf ihn zugerollt war. Er versuchte dieses Bild abzuschütteln und schrieb weiter. Fünf Minuten später fuhr er plötzlich zusammen und drehte sich in panischer Angst um, überzeugt davon, daß er gleich sehen würde, wie dieser Kopf über die alten schwarzen und roten Fliesen
auf ihn zurollte, mit unheimlich glasigen Augen, wie die eines ausgestopften Elchs, mit an den Wangen klebenden Federn...
Nichts zu sehen. Kein Kopf. Und außer dem gedämpften Trommeln seines eigenen Herzens war auch kein Laut zu hören.
Du mußt dich zusammennehmen, Mikey. Es sind nur die Nerven, weiter nichts. Du fantasierst!
Aber es nützte nichts. Seine Gedanken verwirrten sich, er konnte nicht mehr ordentlich formulieren. Er spürte einen Druck im Nacken, der immer stärker zu werden schien.
Das Gefühl, beobachtet zu werden.
Er legte den Füller hin und stand auf. »Ist da jemand?« rief er, und seine Stimme hallte gespenstisch vom Kuppeldach wider. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und versuchte es noch einmal. »Bill?... Ben?«
Bill-ill-ill... Ben-en-en...
Mike beschloß plötzlich, nach Hause zu gehen. Er würde nicht einmal mehr sein Notizbuch in das abgeschlossene Büchermagazin zurückbringen, sondern es einfach mitnehmen. Er griff danach... und dann hörte er einen schlurfenden Schritt.
Er blickte sich um. Lichtseen, umgeben von dunklen Schattenlagunen. Sonst nichts... zumindest konnte er nichts sehen. Er wartete mit laut pochendem Herzen.
Wieder ein Schritt- und diesmal konnte Mike lokalisieren, woher das Geräusch kam. Die verglaste Passage zwischen Erwachsenen- und Kinderbücherei. Bens BBC-Kommunikationsturm. Dort war jemand. Etwas.
Lautlos schlich Mike zur Ausleihtheke. Die Flügeltüren zur Passage wurden mit Holzkeilen offengehalten, und er konnte ein Stückchen hineinsehen. Er glaubte, Füße zu erkennen, und plötzlich kam ihm der schreckliche Gedanke, daß Stan vielleicht doch noch gekommen war, daß Stan gleich aus der Dunkelheit treten würde, seine Vogelenzyklopädie in einer Hand, mit weißem Gesicht und violetten Lippen, mit aufgeschnittenen Handgelenken und Unterarmen.
Ich bin doch noch gekommen, wenn auch ziemlich spät, würde Stan sagen. Ich
habe so lange gebraucht, weil ich mich erst aus einer Grube herausarbeiten mußte,
aber nun bin ich da...
Der nächste Schritt - und jetzt konnte Mike deutlich Schuhe erkennen -Schuhe und ausgefranste Hosenbeine über nackten Knöcheln. Und fast sechs Fuß über diesen Knöcheln konnte er in der Dunkelheit funkelnde Augen sehen.
Er tastete auf der Platte der halbkreisförmigen Ausleihtheke herum, ohne den Blick von diesen regungslosen funkelnden Augen zu wenden. Seine Finger berührten die Kante eines kleinen Holzkarteikastens - die Karten überfälliger Bücher. Dann eine Pappschachtel - Gummis und Büroklammern. Gleich darauf schlössen sich seine Finger um einen metallenen Gegenstand. Es war ein Brieföffner mit den eingravierten Worten jesus errettet auf dem Griff. Ein billiges Ding, das er zusammen mit einem Spendenaufruf von der Grace Baptist Church zugeschickt bekommen hatte. Mike hatte seit 15 Jahren keine Gottesdienste mehr besucht, aber Grace Baptist Church war die Gemeindekirche seiner Mutter gewesen, und er hatte fünf Dollar überwiesen, obwohl er sich das kaum leisten konnte. Er hatte eigentlich vorgehabt, den Brieföffner wegzuwerfen, aber dann war er doch auf seiner unordentlichen Pulthälfte (Carols Seite war immer tadellos aufgeräumt) liegengeblieben. Er umklammerte den Brieföffner krampfhaft und starrte in den dunklen Glaskorridor.
Noch ein Schritt... und noch einer. Jetzt waren die ausgefransten Baum-wollhosen schon bis zu den Knien sichtbar, und er konnte auch die Umrisse der dazugehörigen Gestalt erkennen: breit, schwerfällig, mit runden Schultern und zerzausten Haaren. Eine fast affenartige Gestalt.
»Wer ist da?« rief Mike.
Keine Antwort. Die Gestalt stand einfach da und betrachtete ihn.
Zwar fürchtete Mike sich immer noch, aber er hatte die lähmende übernatürliche Angst überwunden, die mit der Vorstellung verbunden gewesen war, es könnte Stan Uris sein, der aus dem Grab zurückgekehrt war, der durch die Narben auf seinen Handflächen auf geheimnisvolle Weise ins Leben zurückgerufen worden war, wie ein Zombie in irgendeinem Horrorfilm. Aber wer immer der Eindringling auch sein mochte - Stan war es jedenfalls nicht. Stan war nicht so groß gewesen.
Die schattenhafte Gestalt machte einen weiteren Schritt vorwärts, und nun fiel das Licht aus einer der Kugellampen auf die Schlaufen am Bund der Jeans, durch die kein Gürtel gezogen war.
Plötzlich wußte Mike, wer es war. Er wußte es, noch bevor die Gestalt den Mund aufmachte.
»Na so was, das ist ja der Nigger«, sagte die Gestalt. »Hast du wieder mal Steine geworfen, Nigger? Willst du wissen, wer deinen Scheißköter vergiftet hat?«