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»Eine Woche!« kreischte sie und schlug sich an die Brust wie die Diva in einer schlechten Oper. »Eine Woche! Zehn Tage! Bitte, Eddie! Biii...«

»Marty, hör auf!«

Und zu seinem größten Erstaunen tat sie es; sie stand da und schaute ihn mit ihren nassen, verletzten Augen an, nicht ärgerlich, nur erschrocken. Und vielleicht spürte er in diesem Augenblick zum erstenmal, daß er sie wirklich lieben konnte - gehörte das zum Weggehen? Er fühlte sich bereits wie ein Mann, der im falschen Ende eines Teleskops lebt.

Aber vielleicht war es ganz richtig so. War es das, was er meinte? Daß er schließlich erkannt hatte, daß es ganz in Ordnung war, sie zu lieben, obwohl sie wie seine Mutter mit 28 Jahren aussah, obwohl sie dick und nicht allzu klug war, ja sogar obwohl sie soviel Verständnis hatte und ihm die vielen Hilfsmittelchen im Arzneimittelschränkchen verzieh, weil sie ihre eigenen im Kühlschrank hatte? Konnte es sein, daß...

Eine Erkenntnis streifte ihn blitzartig wie ein schwarzer Flügeclass="underline" konnte es sogar sein, daß sie größere Angst hatte als er? Daß auch seine Mutter größere Angst gehabt hatte?

Wieder überfiel ihn eine Erinnerung aus seiner Kindheit in Derry; seit Mikes Anruf brachen diese Erinnerungen immer häufiger über ihn herein, stiegen wie vereinzelte Blitzlichter in einem dunklen Raum in ihm auf. In der Innenstadt, in der Center Street, hatte es ein Schuhgeschäft gegeben. Eines Tages hatte ihn seine Mutter dorthin mitgenommen - er war damals, so schien es ihm, noch nicht zur Schule gegangen - und ihm befohlen stillzusitzen, während sie sich für eine Hochzeit ein Paar weiße Pumps kaufte. Aber er war umhergeschlendert und hatte eine mit Holz ausgelegte Maschine entdeckt, die etwas Ähnlichkeit mit einer auf der Kante stehenden Kiste hatte. Nur daß Stufen zu ihr emporführten, und daß unten ein Schlitz und an der Seite ein Knopf und oben etwas war, das genauso aussah wie ein TV-Bildschirm. Er war um das komische Ding herumgelaufen, ein kleiner Junge in kurzen Hosen, dessen Knie nicht aufgeschürft waren (er hatte kein Dreirad und durfte nicht rennen, außer im Park, weil er Asthma hatte und leicht Fieber bekam - weil er zart war), und an der Vorderseite des kistenähnlichen Dings war ein Schild angebracht, auf dem mit großen roten Buchstaben stand:

PASSEN IHRE SCHUHE RICHTIG?

KONTROLL IEREN SIE ES!

Er war die zwei Stufen bis zum Schlitz hinaufgestiegen und hatte seinen Fuß hineingeschoben. Er hatte sein Gesicht in die Gummi-Schutzmaske gesteckt und auf den Knopf gedrückt. Grünes Licht sprang ihm in die Augen, und er hielt den Atem an, als sein Fuß plötzlich durchsichtig wurde und wie grüner Rauch in seinem Schuh zu schweben schien. Und da waren seine Knochen! Er konnte seine Knochen sehen! Er bewegte seinen Fuß, und seine Knochen bewegten sich. Er kreuzte die große Zehe über der zweiten, und die Knochen der beiden Zehen ergaben ein X von gespenstisch-grüner Farbe. Er konnte sehen, wie...

Dann hatte seine Mutter in wilder Panik aufgeschrien,, was sich in dem stillen Geschäft angehört hatte wie eine kreischende Mähmaschine, wie eine Feuersirene, wie ein reitender Unglücksbote. Er hatte aufgeschaut und gesehen, daß sie auf ihn zugerannt kam, nur in Strümpfen, mit wehendem Kleid. Sie warf in der Hektik einen Stuhl um. Ihr Busen wogte auf und ab. Ihr Mund war ein scharlachrotes O des Entsetzens. Alle Gesichter waren ihr zugewandt. Und sie schrie.

»Eddie, geh da weg! Geh da weg! Diese Maschinen verursachen Krebs! Geh da weg! Eddie, Eddie, Eddie...«

Er war zurückgewichen, als wäre die Maschine plötzlich glühend heiß geworden. An der Kante der oberen Stufe hatte er das Gleichgewicht verloren

und wild mit den Armen um sich geschlagen; und hatte er nicht in dieser Sekunde mit einer Art verrückter Freude gedacht: Ich werde hinfallen, ich werde endlich erfahren, wie es ist hinzufallen und sich den Kopf anzuschlagen hatte er das damals wirklich gedacht oder projizierte nur der erwachsene Mann seine Gedanken in die Erinnerung hinein?

Es war eine müßige Frage. Seine Mutter hatte ihn aufgefangen, und er war nicht gestürzt, obwohl er in Tränen ausgebrochen war.

Er erinnerte sich daran, daß alle Leute sie angestarrt hatten. Einer der Verkäufer hatte den Stuhl aufgehoben und in amüsiertem Widerwillen die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, bevor er rasch wieder seine unbewegte Miene aufsetzte. Aber am stärksten erinnerte er sich an die nasse Wange seiner Mutter und an ihren heißen, trockenen Atem; er erinnerte sich, wie sie ihm immer wieder beschwörend ins Ohr geflüstert hatte: »Tu das nie wieder, tu das nie wieder.« Seine Tränen waren an jenem Morgen stundenlang nicht versiegt, und er hatte den ganzen Tag über schlimmes Asthma gehabt; und abends im Bett hatte er lange wach gelegen und überlegt, ob er wohl schon Krebs hatte und wenn ja, wie lange es dauerte, bis man daran starb, und ob man dabei große Schmerzen hatte.

Sie hatte solche... solche fürchterliche Angst gehabt.

Sie war so entsetzt gewesen.

»Marty«, sagte er, »gib mir einen Kuß.«

Sie trat zu ihm und umarmte ihn so fest, daß seine Knochen schmerzten. Wenn sie in diesem Moment im Wasser gewesen wären, wären sie unweigerlich beide ertrunken.

»Hab keine Angst«, flüsterte er. »Hab keine Angst.«

»Ich kann nichts dafür!« jammerte sie.

»Ich weiß«, sagte er und stellte fest, daß sein Asthma besser geworden war, obwohl sie ihn so fest umklammerte. Sein Atem ging nicht mehr so pfeifend und keuchend.

Der Taxifahrer hupte wieder.

»Rufst du mich an?« fragte sie mit zitternder Stimme.

»Wenn ich kann.«

»Bitte«, jammerte sie. »Bitte, Eddie, kannst du mir nicht sagen, was los ist?«

Oh, das würde sie bestimmt sehr beruhigen. Marty, ich habe heute abend einen Anruf von Mike Hanion bekommen, und wir haben uns eine Weile unterhalten, aber eigentlich lief alles auf zwei kurze Sätze hinaus. »Es hat wieder angefangen«, sagte Mike, und dann: »Wirst du kommen?« Und, Marty, dies ist ein Fieber, das sich nicht mit Aspirin kurieren läßt, und ich leide jetzt an einer Atemnot, gegen die mein Aspirator nichts auszurichten vermag, denn sie kommt aus meinem Herzen. Ich werde zu dir zurückkommen, wenn ich kann, Marty, aber ich fühle mich wie ein Mann, der am Eingang eines alten Minenschachts steht und dem Tageslicht Lebewohl sagt...

O ja, das wäre wirklich sehr beruhigend.

»Ich kann nicht, Marty«, sagte er. »Marty, ich muß gehen.«

Und bevor sie noch etwas sagen konnte, bevor sie von neuem anfangen konnte (Eddie, steig rasch aus diesem Taxi! Sie verursachen Krebs!), trug er rasch sein Gepäck zum Taxi.

Sie stand immer noch auf der Türschwelle, als er wegfuhr, ein großer schwarzer Schatten, der sich vom warmen gelben Licht im Haus abhob. Er winkte und glaubte zu sehen, daß auch sie ihre Hand hob und winkte.

»Wohin soll's denn gehen, mein Freund?« fragte der Taxifahrer.

»Penn Station«, sagte Eddie, und seine Hand, die den Aspirator umklammert hatte, entspannte sich. Das Asthma war verschwunden, tatsächlich verschwunden. Er fühlte sich... fast gut.

Aber zwei Stunden später griff er doch wieder nach seinem Aspirator, als er aus einem leichten Schlummer aufschreckte und so verzweifelt nach Atem rang, daß der Mann im Geschäftsanzug, der ihm gegenübersaß, seine Zeitung sinken ließ und ihn studierte. Eddies Brust hob und senkte sich krampfartig. Er schob den Aspirator in den Mund und drückte auf die Flasche. Dann lehnte er sich zitternd zurück und dachte an den Traum, der -wie er befürchtete - mehr eine Erinnerung als ein Traum gewesen war, ein Traum mit viel grünem Licht wie jenem in der Röntgenmaschine im Schuhgeschäft, ein Traum, in dem ein bei lebendigem Leibe verfaulender Aussätziger im Rollstuhl einen schreienden Jungen namens Eddie Kaspbrak in unterirdischen Gängen verfolgte. Dieser zehnjährige Traum-Eddie rannte und rannte, und dann trat er plötzlich in etwas, das sich wie Gelee anfühlte und wie Friedhofserde stank, und er schaute nach unten und sah das halbverweste Gesicht eines Jungen namens Patrick Hockstetter, und in Patricks Wangen krochen Würmer herum, und vielleicht schrie er, weil Eddie Kaspbrak ihm auf die Brust getreten war - nein, nicht auf, sondern in die Brust, und dieser fürchterliche Gestank kam aus Patricks Innerem, und in diesem Traum, der mehr Erinnerung als Traum war, schaute er zur Seite und sah zwei Schulbücher, >Roads to Everywhere< und >Understanding Our America<, und sie waren mit grünem Schimmel überzogen, weil sie seit zwei Wochen hier unten lagen (>Wie ich meine Sommerferien verbracht habe<, von Patrick Hockstetter: >Ich verbrachte sie tot in einem Kanal, und meine Schulbücher setzten Schimmel an und quollen zu der Dicke von Sears-Katalogen auf<), und sein Fuß steckte in Gelee, in verwesendem Fleisch, das zu Gelee geworden war, und Eddie Kaspbrak öffnete den Mund, um zu schreien, und in diesem Augenblick schlössen sich die rauhen Finger des Aussätzigen um seine Kehle - und dann war er aufgewacht und hatte festgestellt, daß er in einem Erste-Klasse-Abteil des Zuges nach Boston saß.