Выбрать главу

Die Gestalt machte noch einen Schritt vorwärts, und nun fiel das Licht auf Henry Bowers' Gesicht. Es war dick, aufgedunsen und von krankhafter Blässe; die Hängebacken waren mit Bartstoppeln bedeckt, die etwa zur Hälfte nicht mehr schwarz, sondern schon grau waren. Über den buschigen Brauen zogen sich drei tiefe Querfalten über die Stirn. Weitere Falten bildeten große Klammern um die Winkel des vollippigen Mundes. Über einem dicken Bauch, einem Bauch, der mehr Kartoffeln als andere Nahrungsmittel bekommen hatte, spannte sich das Hemd. Die kleinen Augen, die in dem fetten Gesicht fast verschwanden, waren blutunterlaufen und hatten einen leeren Ausdruck. Es war das Gesicht eines vorzeitig sehr gealterten Mannes, der eigentlich erst 39 Jahre alt war, doch aussah wie Mitte Siebzig. Aber gleichzeitig war es das Gesicht eines zwölfjährigen Jungen. Es war Henry Bowers.

»Hallo, Nigger«, sagte Henry.

»Hallo, Henry.« Mike fiel plötzlich ein, daß er den ganzen Tag kein Radio gehört hatte, ja, daß er nicht einmal die >Derry News< aufgeschlagen hatte, deren Lektüre bei ihm normalerweise zum festen Ritual gehörte. Es war einfach zuviel los gewesen. Vermutlich hätte er die Zeitung zu Hause beim Abendessen gelesen, vor dem Treffen in der Bücherei, aber dann hatte Bill ihn angerufen und sich mit Silver bei ihm eingefunden, und deshalb wußte er nichts von den Tagesereignissen. Gefährlicher Insasse aus Junction Hill entflohen, Verlierer, seid auf der Hut.

Henry blieb am Ende des Glaskorridors stehen und starrte Mike mit seinen Schweinsäuglein an. Seine wulstigen Lippen verzogen sich zu einem unbeschreiblichen Grinsen und enthüllten verfaulte Zähne, die schief und krumm waren wie alte Grabsteine in weicher Erde.

»Stimmen«, sagte er. »Ich wette, du weißt darüber Bescheid. Hörst du Stimmen, Nigger?«

»Was für Stimmen, Henry?«

»Vom Mond«, sagte Henry und schob eine Hand in die Tasche. »Sie kam vom Mond. seine Stimme.«

»Hast du Es gesehen, Henry?«

»O ja«, erwiderte Henry. »Frankenstein. Hat Victor den Kopf abgerissen. Gab 'n Geräusch, wie wenn man 'nen großen Reißverschluß öffnet. Dann hat Es sich auf Belch gestürzt. Belch hat mit ihm gekämpft.«

»Ja?«

»Ja. Dadurch konnte ich entkommen.«

»Du hast ihn im Stich gelassen, hast ihn sterben lassen.«

»Sag so was nicht!« Henrys fette Wangen liefen vor Zorn rot an. Er machte zwei Schritte nach vorne, und als er jetzt aus dem Glaskorridor in die Erwachsenenbücherei heraustrat, kam er Mike komischerweise jünger vor. Er konnte die Spuren der Zeit in Henrys Gesicht nun noch deutlicher erkennen, aber er sah auch etwas anderes: das Kind, das vom verrückten Butch Bowers erzogen worden war, das auf einer ursprünglich ordentlichen Farm aufgewachsen war, die Butch allmählich immer mehr heruntergewirtschaf-tet hatte. Der verrückte Butch, der auf der hinteren Veranda seiner Bruchbude von Haus zu sitzen und Radio zu hören pflegte, sein japanisches Schwert - ein Kriegssouvenir - auf dem Schoß. »Sag so was nicht! Es hätte auch mich umgebracht!«

»Uns hat Es nicht umgebracht.«

Henrys Augen funkelten bösartig. »Noch nicht. Aber Es wird euch auch umbringen. Es sei denn, daß ich ihm keinen von euch übriglasse.« Er zog die Hand aus seiner Tasche heraus. Ein schmaler länglicher Metallgegenstand kam zum Vorschein, mit Intarsien aus Elfenbeinimitation. Henry drückte auf einen kleinen Chromknopf, und eine sechs Zoll lange Stahlklinge schoß hervor.

»Ich hab's wiedergefunden«, sagte er. »Hab das Messer gefunden, hab' diese Kleider gefunden. Ich wußte, wo ich suchen mußte.« Er zwinkerte mit einem blutunterlaufenen Lid. »Der Mann im Mond hat's mir erzählt. Nur verwandelt sich der Mond manchmal in ein gesicht. In ein großes clownsgesicht.« Henry entblößte wieder seine Zähne. »Bin per Anhalter gefahren. Mit 'nem alten Mann. Hab' ihm 'nen Schlag versetzt. Ich glaub', er war tot. Bin mit dem Auto in Newport in 'nen Graben gefahren. Kurz hinter der Stadtgrenze von Derry hab' ich dann diese stimme gehört. Ich hab' bei 'nem Gully nachgeschaut. Und da lagen die Kleider. Und das Messer. Mein altes Messer.«

»Du vergißt aber etwas, Henry.«

Grinsend schüttelte Henry den Kopf.

»Wir sind damals mit dem Leben davongekommen, und du ebenfalls. Es wird auch dich jetzt schnappen, Henry.«

»Nein.«

»O doch. Es hat Victor umgebracht, und während Belch mit ihm gekämpft hat, bist du weggerannt. Aber jetzt bist du zurückgekommen. Es ist stark hier in Derry, Henry. Du befindest dich jetzt auf seinem ureigensten Gelände. Und...«

»Nein!«

»... Es wird auch dich umbringen. Vielleicht wirst du wieder Frankenstein sehen. Oder den Werwolf. Einen Vampir. Oder vielleicht den Clown, Henry, und ich glaube, das ist am schlimmsten. Pennywise, der Clown. Warte, bis du ihn sehen wirst, Henry! Er liebt Scherze, und er hat Luftballons. ..«

Mit einem Schrei stürzte sich Henry auf Mike Hanion. Mike sprang beiseite und stellte ihm ein Bein. Henry stolperte darüber und fiel der Länge nach hin. Er schlug dröhnend auf dem Boden auf und schlitterte über die abgetretenen Fliesen. Sein Kopf prallte gegen ein Bein des Tisches, an dem die Verlierer vorhin gesessen und Geschichten erzählt hatten. Einen Moment lang war er halb betäubt; das Messer hing schlaff in seiner Hand.

Mike ging auf ihn zu. In diesem Augenblick hätte er Henry umbringen können; er hätte den Brieföffner mit der Aufschrift JESUS errettet in Henrys Nacken stoßen und danach die Polizei anrufen können. Das hätte natürlich etwas offizielles Geschwafel gegeben, aber nicht allzuviel, nicht in Derry, wo solche Gewalttaten keine Seltenheit waren.

Was ihn davon abhielt, war zum Teil seine Abscheu vor Gewalt, das Gefühl, daß Gewalt seine Waffe war (und vielleicht auch eine Erkenntnis, die ihn blitzartig durchzuckte, ohne richtig in sein Bewußtsein zu dringen: daß er sein Werk ausführen würde, wenn er Henry tötete; ebenso wie umgekehrt Henry sein Werk ausführte, wenn er Mike tötete); was ihn aber mehr als alles andere davon abhielt, war jener andere Ausdruck auf Henrys Gesicht- der müde, verwirrte Ausdruck des unglückseligen Kindes, dem von Geburt an übel mitgespielt worden war. Henry war im verseuchten Umfeld von Butch Bowers' verwirrtem Geist aufgewachsen; und er hatte bestimmt schon ihm gehört, noch bevor er gewußt hatte, daß Es existierte.

Anstatt also den Brieföffner in Henrys Nacken zu stoßen, ließ Mike sich auf die Knie fallen und griff nach dem Messer. Es drehte sich in seiner Hand

- scheinbar ganz aus eigener Kraft -, und obwohl er im ersten Moment keinen Schmerz verspürte, floß plötzlich rotes Blut aus der braunen Haut seiner ersten drei Finger auf die narbige Handfläche.

Er riß seine Hand zurück, und Henry rollte etwas zur Seite. Er kam auf die Knie, und die beiden Männer starrten einander an. Henrys Nase blutete. Er schüttelte den Kopf, und Blutstropfen flogen in die Dunkelheit.

»Ihr habt euch für so schlau gehalten!« schrie er heiser. »Ihr alle! Verdammte Feiglinge und Schwächlinge wart ihr alle, sonst nichts! In einem fairen Kampf hätten wir euch besiegt!«

»Leg das Messer weg, Henry«, sagte Mike ruhig. »Ich werde die Polizei anrufen. Man wird dich hier abholen und nach Jumper Hill zurückbringen. Du wirst von Derry weg sein. Du wirst in Sicherheit sein.«

Henry versuchte zu sprechen und konnte nicht. Er konnte diesem verhaßten Nigger doch nicht erzählen, daß er dort nicht in Sicherheit wäre, ebenso wenig wie in Los Angeles oder in den Regenwäldern von Timbuktu. Früher oder später würde überall der Mond aufgehen, knochenweiß und kalt wie Schnee, und die Geisterstimmen würden ertönen, und das Gesicht des Mondes würde sich in sein Gesicht verwandeln und schwatzen und lachen und ihm Befehle erteilen. Er schluckte schleimiges Blut.